Und was passiert jetzt im Brexit-Drama?
9. September 2019Der Rücktritt von Amber Rudd war der politische Paukenschlag vom Wochenende. Man hatte sich schon gewundert, wie es die Arbeitsministerin vom moderaten Flügel der Konservativen im Kabinett von Boris Johnson überhaupt noch aushielt. Jetzt zog sie die Konsequenzen und warf zum Abschied mit Steinen: Sie könne nicht zuschauen, wie "wie gute, loyale, moderate Konservative ausgeschlossen werden". Das Handeln des Premierministers sei ein Angriff auf "Anstand und Demokratie" und ein "Akt des politischen Vandalismus". Außerdem glaube sie nicht mehr, dass "ein Deal" mit der EU "Hauptziel der Regierung" sei, denn 90 % der Energie würden auf No-Deal-Vorbereitungen verwendet.
Noch vier weitere Rücktrittskandidaten werden in Johnsons Kabinett vermutet. Das Tischtuch zwischen ihm und den gemäßigten Tories scheint endgültig zerschnitten.
Verspätete Reise nach Dublin
Am Vormittag ist Boris Johnson nach Dublin zum irischen Premier Leo Varadkar gefahren. Es sollte ein vertrauensbildendes Treffen im Gästehaus der Regierung werden. Dabei sind die Iren längst sauer auf den Briten, weil er sie nicht schon früher besucht hat. Und von Vertrauen kann keine Rede sein, weil Johnson bisher keine Details über eine alternative Lösung für die Offenhaltung der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland preisgeben wollte. Andererseits will er den sogenannten "Backstop" um jeden Preis aus dem Austrittsabkommen entfernen.
Irlands Premier hält jedoch nichts von diesem Vorhaben: "Solange keine Einigung über alternative Vorkehrungen gilt, bedeutet kein Backstop für uns 'No Deal'", sagte Varadkar vor dem Treffen mit Johnson. Realistische Alternativvorschläge habe London noch keine vorgelegt, sagte Varadkar. Im Falle eines No-Deal-Brexits erwarte er jahrelange Verhandlungen über die zukünftigen Verhältnisse - ein Freihandelsabkommen zu verhandeln, sei eine "Herkulesaufgabe" für Boris Johnson. Das Treffen der beiden war wohl eher angespannt.
Bisher wurde bei Gesprächen in Brüssel nur eine Regelung über den unbehinderten Transport von landwirtschaftlichen Produkten ins Spiel gebracht. Damit würde aber das Grenzproblem nach Angaben der EU an sich nicht gelöst. Unbestätigt sind bisher Vermutungen, die britische Regierung könnte zu der alten Lösung zurückkehren, Nordirland allein weiter in Teilen des Binnenmarkts und in der Zollunion zu halten. Die EU hatte das vorgeschlagen, bevor es später auf britischen Wunsch zum erweiterten "Backstop" kam. Das aber könnte sich Boris Johnson nur leisten, wenn er die Unterstützung der nordirischen DUP nicht mehr braucht. Wie es damit aussieht, weiß man erst nach den Wahlen.
Was, wenn der Premier das Gesetz nicht achtet?
Am Nachmittag will der Premierminister ins Unterhaus zurückkehren, um erneut Neuwahlen zu verlangen. Dafür braucht er unverändert eine Zweidrittelmehrheit. Die Opposition hat sich allerdings verschworen, Boris Johnson diesen Gefallen nicht zu tun. Labour, Liberale, die schottische SNP und Unabhängige wollen solange Nein sagen, bis sie im Oktober eine Verlängerung des Brexit-Datums sicher gestellt haben. Sie trauen dem Premier nicht.
Dazu haben sie umso mehr Grund, seit am Sonntag sein Finanzminister Sajid Javid in der politischen Talkshow der BBC beteuerte, der Premier werde keinesfalls eine Verlängerung beantragen. Auf die Frage, ob er denn gegen das Gesetz verstoßen wolle, kam keine eindeutige Antwort. Außenminister Dominic Raab erklärte aber dazu, man werde alle Möglichkeiten des Gesetzes ausloten, um eine Verlängerung zu umgehen. Die Regierung scheint auf ein juristisches Schlupfloch zu hoffen, oder will es auf einen Rechtsstreit ankommen lassen.
Der schlimmste Zusammenstoß seit 1688
Dass ein Premierminister willentlich ein Gesetz brechen will, ist in der jüngeren britischen Geschichte noch nicht vorgekommen. Aus der Downing Street kommen Gerüchte, man setze darauf, dass sich ein Rechtsstreit vor dem obersten Gericht solange hinziehen würde, bis Großbritannien automatisch am 31. Oktober aus der EU fiele. Allerdings würde dieser Plan das Vereinigte Königreich in eine erneute und noch schwerere konstitutionelle Krise stürzen. Es wäre der "schlimmste Zusammenstoß seit 1688 die parlamentarische Regierung etabliert wurde", schreibt die "Times" dazu.
Am letzten Donnerstag hatte Johnson bei einer Rede in Yorkshire selbst bekräftigt, dass er eher "tot im Graben liegen" als bei der EU eine Verlängerung beantragen wolle. Bislang hat er aber keinen Hinweis darauf gegeben, was er stattdessen tun will. Er gab später nur den Hinweis, er werde seine "Überzeugungsmacht" einsetzen und die anderen EU-Regierungschefs beim Gipfeltreffen Mitte Oktober zu einem Deal überreden. Die Gefahr besteht, dass der Premier hier den Briten wieder die Unwahrheit sagt. Denn beim EU-Gipfel verhandeln die 27 überhaupt nicht mit dem britischen Regierungschef, sondern nur untereinander. Jedes Austrittsabkommen müsste zu dem Zeitpunkt fertig auf dem Tisch liegen.
Will Frankreich Nein sagen?
Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian sagte am Wochenende, es fehle an Fortschritten bei den Gesprächen in Brüssel. "Das ist besorgniserregend. Die Briten müssen uns sagen, was sie wollen." Man werde die Frist "nicht alle drei Monate verlängern". Bislang halten Unterhändler in Brüssel die Gespräche mit den Briten für eine Farce. Der britische Beauftragte David Frost habe bisher keine konkreten Vorschläge mitgebracht. Außerdem ist die EU alarmiert, weil er die Verpflichtungen aus der politischen Erklärung plötzlich lockern will, die nach den Brexit zwischen beiden Seiten ein "level playing field" beim Regelwerk garantieren sollen. Damit würde ein Freihandelsabkommen zwischen beiden Seiten fast unmöglich.
Bereits bei der letzten Verlängerung der Brexit-Frist hatte EU-Ratspräsident Donald Tusk gewarnt, die Briten sollten die Zeit gut nutzen und nicht "verschwenden". Diese Mahnung ist verhallt. Schon damals war die französische Regierung in Sachen Verlängerung skeptisch. Es ist zwar nicht zu erwarten, dass Paris wirklich Nein sagt, wenn aus London gute Argumente für eine neue Frist kommen. Das könnten in erster Linie ein zweites Referendum und vielleicht noch Neuwahlen sein. Aber Ziel sei nicht, mehr Zeit für noch mehr Streit und politisches Chaos in Großbritannien zu geben.
Was kann Boris Johnson jetzt noch tun?
Was dem Premier bleibt? Er könnte ein Misstrauensvotum gegen sich selbst beantragen. Das haben seine Berater allerdings bisher zurückgewiesen und der Premier hat betont, er wolle an der Regierung bleiben. Dennoch sieht ein Plan B in der Downing Street wohl vor, dass Boris Johnson seinen Rücktritt einreichen könnte. Damit würde der Weg frei für eine Übergangsregierung mit einer Vertrauensperson der Opposition, die dann die Brexit-Verlängerung in Brüssel statt seiner beantragen müsste. Inzwischen würde sich Johnson in einen Wahlkampf mit allen Mitteln des Populismus werfen. Das Grundthema ist schon klar: Das Volk erhebt sich wegen des Brexits gegen das Parlament. Der Wahltermin wäre dann im November, nach einer möglichen Verschiebung des Austrittsdatums.
Die andere Möglichkeit ist, dass Johnson es tatsächlich auf die juristische Auseinandersetzung ankommen lässt und das Anti-No-Deal-Gesetz missachtet. Der Ablauf und die Folgen dieser Variante sind noch nicht absehbar. Hohe Juristen haben bereits gewarnt, Boris Johnson könne auch ins Gefängnis wandern.
Und schließlich könnte der Premier das Ruder herumreißen, und ernsthaft einen Deal mit der EU suchen. Allerdings ist die Zeit dafür schon sehr kurz: Bis zum Brexit-Datum sind es genau 52 Tage. Das britische Parlament kann jedenfalls nicht mehr viel ausrichten: Bereits an diesem Montagabend soll es in eine fünfwöchige Zwangspause geschickt werden. Das teilte ein Regierungssprecher in London mit.