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Die Farce der EU-Asylpolitik

Ben Knight (sp)8. September 2015

Der Flüchtlingsstau am Keleti-Bahnhof in Budapest ist größtenteils aufgelöst. Doch täglich überschreiten weiterhin Tausende die serbische Grenze nach Ungarn. Lokale Helfer kritisieren die EU. Ben Knight aus Budapest.

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Ein Rasenplatz in Budapest, an dem sich afghanische Flüchtlinge aufhalten (Foto: Ben Knight)
Bild: Ben Knight

"Afghanen-Park" wird der kleine Rasenplatz (Artikelbild) in der Nähe des Budapester Keleti-Bahnhofs inzwischen genannt. Viele Menschen, die zuletzt außerhalb des Bahnhofs im Freien gelebt hatten, durften zwar weiterziehen. Doch eine kleine Gruppe vorwiegend junger Männer harrt dort weiterhin aus - auf dünnen Matten, in Decken gehüllt oder in Zelten. Auf einer Seite des Parks steht eine Reihe mobiler Toilettenhäuschen. Andere sanitäre Einrichtungen gibt es nicht.

Die syrischen Flüchtlinge sind weitgehend fort, nachdem sie erfahren hatten, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihnen Asyl in Deutschland verspricht. Die meisten Afghanen sind hier geblieben. Zu unsicher sind sie, ob es die Mühe wert ist, nach Deutschland zu reisen. Schließlich könnten sie wieder nach Ungarn abgeschoben werden - wegen der Dublin-Regel, nach der ein Asylbewerber seinen Antrag in jenem EU-Land stellen muss, das er als erstes erreicht hat.

"Wir haben ihnen gesagt: Geht. Bitte geht. Das ist für euch am besten", sagt Zsusza Zsohar. Sie arbeitet bei "Migration Aid", einer ungarischen Freiwilligenorganisation, die vor zwei Monaten entstanden ist. "Aber sie wissen nicht, was sie machen sollen. Natürlich haben sie Angst, wieder zurückgeschickt zu werden."

Einige der Afghanen sind einfach nur erschöpft und haben entschieden, für ein paar Tage Halt zu machen. Wie der 15-jährige Umar. Zwei Monate hat er gebraucht, um nach Budapest zu kommen. Über den Iran, die Türkei und Bulgarien ging seine Reise. Zu Fuß. "In den Bergen im Iran gab es keine Unterkünfte. Es gab dort überhaupt nichts. Manchmal hatten wir vier oder fünf Tage lang nichts zu essen", sagt er. Aber in Afghanistan habe er kein Leben gehabt, nachdem die vom Präsidenten errichtete Schule in seiner Gemeinde von den Taliban in die Luft gesprengt wurde.

Der 15-jährige Flüchtling Umar aus Afghanistan in Budapest (Foto: Ben Knight)
Der 15-jährige Umar ist aus Afghanistan geflüchtetBild: Ben Knight

Eine vorhersehbare Krise

Die Flüchtlingskrise dominiert die europäischen Schlagzeilen seit wenigen Wochen. Ungarn hat sie aber bereits seit zwei Monaten erfasst. Wochenlang konnten Einheimische beobachten, wie sich Dutzende und manchmal sogar Hunderte Flüchtlinge manchmal tagelang am Keleti-Bahnhof aufhielten, bis sie dann weiterzogen.

Marc Speer von der Budapester Nichtregierungsorganisation "Border Monitoring" sieht zwei wesentliche Gründe dafür, warum sich diese menschliche Katastrophe Ende August derart plötzlich offenbart hatte. "Zum einen sind einfach viel mehr Menschen gekommen", sagt er im Gespräch mit der DW. "Vor einem Monat haben täglich etwa 1500 die Grenze passiert. Inzwischen sind es 2500 oder manchmal sogar über 3000. Zum anderen kommen immer weniger Menschen von hier weg."

Normalerweise warteten die Migranten ein paar Tage, bis sie Schlepper fanden, die sie außer Landes bringen konnten. Die übliche Fluktuation fand einen abrupten Halt, als in Österreich 71 tote Flüchtlinge in einem abgestellten Lastwagen an einer Autobahn gefunden wurden. "Nach der Tragödie war dieser Weg für viele Flüchtlinge verbaut. Österreich hat die Kontrollen danach deutlich verschärft, und die Schmuggler mussten ihre Arbeit einstellen", sagt Speer. "Hinzu kommt, dass die Flüchtlinge zunächst auch nicht mit den Zügen weiterreisen durften."

Asylpolitik als Selbsttäuschung

Für die ungarischen Flüchtlingsunterstützer ist das Chaos, das sich in den jüngsten Tagen in Budapest, Wien oder München abgespielt hat, nur eine konzentrierte Version der Selbsttäuschung, die die Zuwanderungspolitik der EU seit Jahren prägt.

Flüchtlinge am Keleti-Bahnhof in Budapest (Foto: Ben Knight)
Hoffen auf einen Zug Richtung WestenBild: Ben Knight

Er sei gerade vom Erstregistrierungslager im ungarischen Röszke an der Grenze zu Serbien zurückgekehrt, sagt ein freiwilliger Helfer der Gruppe "MigSzol", und zeigt Fotos von Fahrzeugen der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex. An den Autos sind niederländische Nummernschilder zu sehen. "Zäune sind also gegen die europäischen Werte, aber Frontex ist es nicht?", fragt der Aktivist.

Bislang beschränkte sich die ungarische Flüchtlingspolitik für die Neuankömmlinge in Röszke darauf, ihre Fingerabdrücke abzunehmen, sie zu registrieren und ihnen dann ein Zugticket in die Hand zu geben und sie aufzufordern, sich eigenständig in das Flüchtlingscamp zu begeben, in das sie eingeteilt wurden. Das Ticket gilt für 48 Stunden in jedem ungarischen Zug. Da viele Flüchtlinge aber nach Deutschland oder Österreich weiterreisen wollen, ignorieren sie die Anweisungen und fahren direkt zum Keleti-Bahnhof nach Budapest.

Doch seit diesem Wochenende sei es damit vorbei, sagt Zsusza Zsohar von "Migration Aid". Die ungarischen Behörden hätten sich offenbar dazu entschlossen, die Neuankömmlinge in Röszke zunächst festzusetzen. "Viele Menschen kommen weiterhin nach Ungarn, zwischen 1800 und 2000 täglich. Wohin sie sie bringen, weiß ich nicht", sagt sie. Am Wochenende machten Gerüchte die Runde, dass sich rund 1000 Flüchtlinge auf den gut 250 Kilometer langen Marsch nach Budapest gemacht hätten.

"De facto ein Durchreisevisum"

Es wurde viel darüber spekuliert, ob der ungarische Premierminister Viktor Orban den Flüchtlingsstau bewusst herbeigeführt hat, um seine eigenen Argumente in Brüssel zu stärken. Für Marc Speer ist das aber nicht die ganze Wahrheit. "Ich bin sicher, dass Deutschland und Österreich hinter den Kulissen Druck aufgebaut haben, um die Leute nicht weiterreisen zu lassen", sagt er der DW. Als das tragische Ausmaß dieser Entscheidung offensichtlich wurde, habe die ungarische Regierung einwilligen müssen, Spezialbusse bereitzustellen, die die Flüchtlinge an die österreichische Grenze bringen sollten. Dies sei nur eine "Notlösung", einigten sich Angela Merkel und Viktor Orban bei einem Telefonat. Eine humanitäre Ausnahme von der Dublin-Regelung.

Welche Absprachen es auch immer auf der europäischen Ebene gegeben haben mag - dass Ungarn seit Jahren klammheimlich die Dublin-Regel ignoriert, gilt als offenes Geheimnis. Budapest treibt seine Bürokratie und sein Sozialsystem an, Asylsuchende zu entmutigen, in Ungarn zu bleiben. Stattdessen sollen sie dazu bewegt werden, weiter nach Norden zu reisen.

Flüchtlinge in Budapest, auf der Suche nach Spenden (Foto: Ben Knight)
Auf der Suche nach geeigneten Sachspenden: Flüchtlinge in BudapestBild: Ben Knight

Die einzige Chance für einen Flüchtling, in Ungarn zu bleiben ist, einen sogenannten Integrationsvertrag zu unterzeichnen. Dies bedeutet, dass sich Flüchtlinge im Gegenzug für die Anerkennung in einem vorgeschriebenen Zeitraum bei einem sogenannten "Familienbetreuer" melden müssen. In den ersten sechs Monaten wöchentlich, danach für zwei Jahren monatlich. Doch von dieser Möglichkeit haben nur die wenigsten Gebrauch gemacht.

"Der Antrag auf Asyl ist de facto ein Durchreisevisum", sagt Marc Speer. "Auf dem Papier gilt eine Person als Asylbewerber. Doch de facto ist dies ein Durchreisevisum. Und die Griechen, Mazedonier und Serben machen genau dasselbe."