Ungarn: OSZE-Mission gegen Wahlbetrug?
10. Januar 2022Maßgeschneiderte Wahlgesetzgebung, illegale Wählermobilisierung, verdeckter Stimmenkauf - das und manches mehr haben sich Ungarns Premier Viktor Orban und die Polittechnologen seiner Regierungspartei Fidesz im vergangenen Jahrzehnt einfallen lassen, um ihre Wahlsiege möglichst vorab zu garantieren. "Elektorale Autokratie" nennen Politologen das.
Dieses System funktionierte, solange Fidesz die einzige große Partei in Ungarn war. Doch nun, drei Monate vor der nächsten Parlamentswahl, stößt es an seine Grenzen. Denn zum ersten Mal, seit Orban 2010 mit Zwei-Drittel-Mehrheit an die Macht kam, treten die sechs wichtigsten Oppositionsparteien in einem Bündnis gemeinsam gegen den Premier und seine Partei an. Viele Umfragen bescheinigen der Anti-Orban-Allianz durchaus Siegchancen.
Um einen Machtverlust abzuwenden, lässt Viktor Orban daher an bislang ungenutzten Stellschrauben des Wahlsystems drehen. Vor wenigen Wochen etwa verabschiedete die Fidesz-Parlamentsmehrheit eine Änderung der Meldebestimmungen. Wähler können sich nun bei Adressen anmelden, unter denen sie nicht wohnen. Damit ist Wahltourismus aus Ungarns Nachbarländern legal - dort stellen Minderheiten-Ungarn ein großes Wählerreservoir für Orbans Fidesz dar.
"Kein Spielchen, sondern echtes Match"
Kein Wunder, dass Oppositionsparteien, zivile Organisationen und regierungskritische Wahlexperten schon länger davor warnen, dass es bei der kommenden Wahl im Frühjahr zu massiven Unregelmäßigkeiten kommen könnte. Nun geht eine Nichtregierungsorganisation noch weiter: Unhack Democracy, eine der wichtigsten Vereinigungen für Wahlmonitoring in Ungarn, fordert von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), sie solle eine vollumfängliche Wahlbeobachtungsmission ins Land schicken - eine so genannte Langzeitmission, deren Mitglieder bereits während des Wahlkampfs anwesend sind und die den Ablauf des Urnengangs am Wahltag selbst mit mehreren hundert Wahlbeobachtern überwacht.
"Bei der Wahl im Frühjahr wird der Wettbewerb zwischen der Regierungspartei und der Opposition sehr eng, es geht diesmal für Orban nicht nur um ein Spielchen, sondern um ein echtes Match", sagen Zsofia Banuta und Melani Barlai, die beiden Mitbegründerinnen von Unhack Democracy, im Gespräch mit der DW. Deshalb sei die Gefahr von Manipulationen und Betrug diesmal besonders groß.
"Hinzu kommt, dass in unseren repräsentativen Umfragen 40 Prozent der Wahlhelfer in Ungarn angeben, sie hätten kein Vertrauen in die Korrektheit der Wahlen", so Banuta und Barlai. "Daher wäre es sehr wichtig, dass die OSZE eine Langzeitmission zur Wahl nach Ungarn schickt."
Wahltourismus aus der Ukraine
Wahlbeobachtung durch das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) ist nicht nur in fragilen OSZE-Mitgliedsstaaten, sondern auch in EU-Ländern mit stabilen Demokratien üblich - allerdings meistens im Rahmen eingeschränkter Kurzzeitmissionen. Eine Langzeitmission hingegen kann die OSZE bei den Behörden eines Mitgliedsstaats dann beantragen, wenn erhebliche Zweifel am korrekten Wahlablauf bestehen.
Und diese Zweifel gibt es in Ungarn zuhauf. Unhack Democracy, gegründet nach der Parlamentswahl vom April 2018, hat in den vergangenen Jahren wiederholt systematische Unregelmäßigkeiten, Manipulationen und Betrugsversuche bei Wahlen aufgedeckt. So dokumentierte die Vereinigung, dass bei der Parlamentswahl 2018 massenweise Bürger der Ukraine, die auch die ungarische Staatsbürgerschaft besaßen, in die Grenzregionen Ostungarns einreisten, um abzustimmen - was zu jener Zeit illegal war. Damals erreichte Fidesz nur um Haaresbreite eine neue Zwei-Drittel-Mehrheit. Dazu trugen auch die mehreren tausend Stimmen der Minderheiten-Ungarn aus der Ukraine bei.
Wahlprotokolle blanko unterzeichnet
Vor allem aber befragte Unhack Democracy immer wieder anonym Wahlhelfer. Mit beunruhigenden Ergebnissen. So etwa berichteten nach den Europa- und den Kommunalwahlen 2019 jeweils zwischen zehn und zwölf Prozent der Befragten von Unregelmäßigkeiten in ihrem Wahllokal, von Stimmenkauf oder von Wählerbeeinflussung am Wahltag.
"Wir haben etwa Zeugenaussagen darüber, dass Wahlleiter einer Gemeinde in Ostungarn Wahlprotokolle, die normalerweise am Ende des Wahltages von Helfern unterschrieben werden, bereits morgens blanko unterzeichnen ließen", berichten Banuta und Barlai.
Doch Orban und seine Partei haben auch zu vielfältigen gesetzlichen Mitteln der Wahlbeeinflussung gegriffen. So etwa wurden vor der Parlamentswahl 2014 die Wahlkreise neu zurechtgeschnitten - zum Vorteil von Fidesz. Eingeführt wurde 2014 auch ein Listenwahlrecht für jene Angehörige ungarischer Minderheiten in den Nachbarländern, die die ungarische Staatsbürgerschaft besitzen. Sie sind überwiegend Fidesz-Sympathisanten und können per Briefwahl abstimmen.
Wahlen "frei, aber nicht fair"
Hingegen besitzen ungarische Arbeitsmigranten im Ausland, die noch in der Heimat gemeldet sind, kein Briefwahlrecht. Sie können nur persönlich in Botschaften und Konsulaten wählen - was für viele aufgrund von Anfahrtswegen und Transportkosten nicht in Frage kommt. Kritiker dieser Regelung mutmaßen, die Orban-Regierung wolle die tendenziell eher Fidesz-kritischen ungarischen Arbeitsmigranten im Westen vom Urnengang abhalten.
Aufgrund solcher Regelungen kam die OSZE bereits 2014 zu dem Schluss, dass Wahlen in Ungarn "frei, aber nicht fair" seien. Vier Jahre später fiel das Urteil noch schärfer aus: Es gebe keinen gleichberechtigten Wettbewerb mehr zwischen Regierungspartei und Opposition, stellten OSZE-Wahlbeobachter damals fest.
Unsichtbare Abhängigkeitsverhältnisse
Für besonders schwerwiegend halten die Unhack-Democracy-Mitbegründerinnen Banuta und Barlai jedoch die, wie sie es nennen, "unsichtbaren Abhängigkeitsverhältnisse" vieler Wählerinnen und Wähler von der Regierung und der Orban-Partei, vor allem in kleineren Städten und ländlichen Gemeinden.
Tatsächlich sind in Ungarn sehr viele Menschen staats- und regierungsabhängig - Sozialhilfeempfänger ebenso wie Unternehmer, die von Staatsaufträgen leben. Eine Forschergruppe der Budapester Eötvös-Lorand-Universität belegte unlängst beispielsweise, dass Fidesz seit 2014 örtlich jeweils desto mehr Stimmen erhielt, je höher der Anteil der so genannten kommunalen Beschäftigten war - das sind unter staatlicher Arbeitspflicht stehende Sozialhilfeempfänger.
"Von Brüssel und Soros finanziert"
Damit Ungarn nicht immer tiefer in eine "elektorale Autokratie" abgleite, sei es notwendig, so Banuta und Barlai, dass die Oppositionsparteien möglichst viele eigene Wahlhelfer in Wahllokale entsenden und sich ihrerseits für eine vollumfängliche OSZE-Wahlbeobachtungsmission stark machen würden. Ob die kommt, ist noch unklar, wie eine OSZE-Sprecherin der DW sagt, denn dafür bedarf es einer Einladung der ungarischen Behörden. Die steht bisher noch aus.
Gegenüber der DW wollte sich die ungarische Regierung dazu nicht äußern. Detaillierte Fragen der Deutschen Welle, unter anderem zur Initiative von Unhack Democracy und zu Vorwürfen der Wahlmanipulation, beantwortete das Büro des ungarischen Regierungssprechers Zoltan Kovacs so: "Von Brüssel und George Soros finanzierte 'zivile' Organisationen attackieren Ungarn, weil wir keine Einwanderer hereinlassen und keine LGBTQ-Propaganda in Kindergärten und Schulen erlauben."