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Ungewohnte Fesseln

Janelle Dumalaon / ad30. Dezember 2014

"Arm aber sexy" ist keine Untertreibung für Berlin, das schon in den wilden 1920er Jahren für seine Freizügigkeit berühmt war. DW-Autorin Janelle Dumalaon berichtet von fesselnden Erfahrungen am eigenen Leib.

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Deutschland Berliner Erotik-Yoga Lehrerin Dasniya
Bild: DW/J. Dumalaon

Es ist mitten in der Woche, und ich hänge von der Decke herunter – irgendwo im Berliner Stadtteil Wedding. Meine Brust und meine Taille sind kreuz und quer von Seilen eingeschnürt. Ich bemühe mich nach Kräften, meine Empfindungen in Worte zu fassen. "Wie geht es Dir?", fragt mein Partner Tim. Meine Antwort: "Aah! Aaah! Aaaah!"

Ganz genauso geht es mir - 28 Jahre alt, in einer katholischen Jesuitenschule erzogen und mit konservativen, traditionellen Familienwerten aufgewachsen, die in meiner Heimat, den Philippinen, als Fundament der Gesellschaft gelten. Allerdings würde ich mich selbst in keinster Weise als konservativ bezeichnen. Ich finde die sexuelle Offenheit der Berliner und ihre Tolerierung von Nacktheit in der Öffentlichkeit geradezu erfrischend – eine willkommene Abwechslung zu meinem persönlichen Hintergrund, der von katholischer Abstinenz geprägt wurde und wo ein Stückchen nackter Haut fast schon eine Sünde darstellte. Wie auch immer – Berlin ist eine Herausforderung für jedermanns Einstellung zu Sex.

Sexshops in Hülle und Fülle

Nicht weit von meinem Wohnort in Berlin befindet sich der Laden "Other Nature", der sich selbst als "feministischen, homosexuell orientierten, umweltfreundlichen und veganen Sex-Shop" bezeichnet. Ich bin ein paar Mal drin gewesen, um das ganze Sammelsurium umweltfreundlicher Sexspielzeuge zu bestaunen. Ich habe mich gefragt, was wohl passieren würde, wenn jemand einen ähnlichen Laden in meiner Nachbarschaft auf den Philippinen aufmachen würde, wo die Leute sich alle in der Kirche treffen. Ich höre geradezu den Aufschrei meiner Nachbarn: "Diese Sexspielzeuge sind unmoralisch!" Und die Reaktion der Berliner Eigentümer, die es zwar gut meinen, aber keine Ahnung haben: "Wieso denn? Sie sind doch umweltfreundlich!"

Und doch habe ich mich keinesfalls mühelos in das freizügige Berliner Sexleben eingefügt. Was mir noch fehlt, ist ein Besuch – als Zuschauerin – des KitKat Clubs, der für die hemmungslosen sexuellen Aktivitäten seiner Eigentümer bekannt ist. Was ich mir auch noch nicht so ganz vorstellen kann: im Park nackt Volleyball zu spielen. Und bis vor kurzem stand Bondage Yoga auch noch nicht auf meiner Liste – und trotzdem bin ich jetzt hier.

Berlin in Bondage

Also zurück zum Shibari Yoga-Kurs, wo ich unter meinem eigenen Gewicht stöhne. Wie ich in Erfahrung gebracht habe, ist Shibari eine aus dem 16. Jahrhundert stammende japanische Bondage-Kunst, die ursprünglich von Samurais erfunden wurde, um Inhaftierte in Schach zu halten. Seitdem ist es zu einer Art erotischem Spiel mit Seilen entwickelt worden, eine spezielle BDSM-Unterart.

Meiner Ansicht nach ist Shibari Yoga typisch für Berlin – so als ob jemand die spirituelle Hipness der unzähligen Yoga-Schulen Berlins mit freiem sexuellen Ausdruck kombiniert hätte, um eine neue erotische Spielart zu bilden. Aber ich bin nicht davon überzeugt, dass das Ganze perfekt zusammenpasst. Meiner Meinung nach geht es bei Yoga um Bewegung, bei Bondage jedoch um Beschränkung. Bei Yoga kommen einem Ruhe und Gelassenheit in den Sinn, bei Bondage eher Schmerz und Gewalt. Aber mir wurde versichert, dass das eine von dem anderen gar nicht so verschieden sei.

Deutschland Berliner Erotik-Yoga Lehrerin Dasniya
Für Shibari Yoga benötigt man eine Matte und starke SeileBild: Tim Feher

Und jetzt zurück zu dem, was früher an diesem Abend geschah. Ich sitze in einem Café mit Dasniya – sie sieht sich selbst als Ballett-Tänzerin-Model-Yoga-Lehrerin-Bondage-Künstlerin. "Yoga ist Knechtschaft", sinniert Dasniya. "Yoga kann extrem schmerzhaft sein, während Meditation auch sehr intensiv und schwierig sein kann. Bondage kann eine beruhigende und tröstende Wirkung haben, mit dem Ziel, Vertrauen einzuüben. Es soll keinen Schaden anrichten."

Dasniyas Vater war ein Thai-Mönch, und sie ist in Deutschland von klein auf mit Yoga aufgewachsen. Für sie war es wie ein Tanz oder eine Choreografie, während BDSM (Bondage & Discipline, Sadism & Masochism) eine natürliche Fortentwicklung davon sein soll. "Hier wird viel mit Identität gespielt", erläutert sie. Und wie hat ihre Familie auf ihre Versuche reagiert, spirituelle Tradition mit Bondage zu verbinden? Sie lächelt: "Von den Details wollen sie eigentlich gar nichts wissen. Das einzige, was sie interessiert, ist, dass es mir spirituell und geistig gut geht."

Peinliche Situation

Minuten später sitze ich im Schneidersitz auf knallgrünen Yoga-Matten, zusammen mit etwa 15 anderen Teilnehmern. Vor jedem liegen zwei kleine ordentliche Bündel von Seilen. Wir beginnen mit Atemübungen und sodann mit verschiedenen "Asanas", also Yoga-Übungen. Wieder im Sitzen müssen wir die Seile auseinanderzupfen und das Geknäuel auf unsere Körper reiben.

Wie die anderen auch reibe ich nun selbstbewusst ein paar Seile unter meine Achselhöhlen. Ich schiele hinüber zu Tim, der zu mir zurückschielt. Wir versuchen beide krampfhaft, nicht zu lachen – aber das gelingt uns nicht. Ich schaue auf Dasniya, in der Erwartung, dass sie mich nun dafür tadelt, den kollektiven Geist des Kurses gestört zu haben. Aber sie lächelt nur, und ich bin darüber erleichtert, dass wir durchaus auch mal lachen dürfen. Und vor allem darüber, dass sie es mir auf diese Weise ermöglicht, mit dieser peinlichen Situation umzugehen.

Themenbild Kolumne Scene in Berlin NEU!

Jetzt benutzen wir das Seil auf andere Weise: Im Stehen müssen wir es uns unter die Füße ziehen, dann die Seilenden wegziehen, um uns dadurch weiter nach unten bücken zu müssen und dann, auf dem Rücken liegend, die Beine zum Gesicht durchstrecken. Yoga ist brutal, denke ich mir. Aber ich könnte noch viel mehr meditatives Gefühl entwickeln, wenn meine Oberschenkelmuskeln nicht so extrem wehtun würden.

Jenseits von Pfadfinder-Knoten

Schließlich kommen wir zum eigentlichen Shibari. Das bedeutet, eine andere Personauf trickreiche Art mit Hilfe der Seilemit ästhetisch aussehenden Knoten zu umhüllen. Die Knoten müssen so stark sein, dass diese andere Person damit von der Decke herunterhängen kann.

Die Seile müsst Ihr euch vorstellen wie eine besonders feste Umarmung", sagt Dasniya. Nach einer schnellen Absprache kommen Tim und ich überein, dass ich zuerst "fest umarmt" werden soll. Es fällt ihm leicht, die Knoten zu schnüren. Und schon sind meine Seile mit anderen Seilen zusammengeknotet, die von einem Metallring an der Decke herunterbaumeln. Und dann baumele ich herunter. Was nun? Rechts von mir liegt eine Frau unter ihrem von der Decke hängenden Partner, den sie sanft hin und herschaukelt. Ich suche nach Dasniya. Ihr Partner ist an einen Stuhl gefesselt, beide hängen, nach vorne geneigt, ebenfalls von der Decke herunter. Den smaragdgrünen Pullover, den Dasniya zuvor über ihrem T-Shirt getragen hatte, hat sie ihrem gefesselten Partner über die Augen gebunden.

"Darf ich nicht Superman spielen?", frage ich Tim. Er seufzt und verpasst mir einen Schubs. Mit ausgestreckten Armen schwinge ich durch die Luft. Aber schon bald habe ich genug davon, weder ein Vogel noch ein Flugzeug zu sein. Ich denke vielmehr, dass ich jetzt mit dem Fesseln an der Reihe bin. Allerdings tue ich mich mit dem Knoten viel schwerer als Tim. Ich fühle mich, als hätte ich gerade in einem Makramee-Bastelkurs total versagt. Geduldig lässt er sich ein Seil um Brust und Schultern schlingen, während ich vor mich hinmurmele. Mann, was komme ich mir sexy vor!

Deutschland Berliner Erotik-Yoga Lehrerin Dasniya
Die Seile richtig zu knoten ist eine Kunst für sichBild: DW/J. Dumalaon

"Allmählich finde ich das ein bisschen langweilig", gesteht Tim, nachdem meine Seile auf der einen Seite runterfallen - ein klarer Fall von fehlerhafter Fesseltechnik. Aber schließlich siegt meine Beharrlichkeit über meine Ungeschicklichkeit – und dann baumelt Tim von dem Ring herunter. Ich nehme ihn in die Arme und lasse ihn frei. Tim kracht in einige Stühle, bevor er zum Ausgangspunkt zurückschwingt. Ich rase zur Stelle, um die Stühle schnell wegzuziehen, bevor er wieder dagegen knallt.

Befreiende Einschränkung

Zumindest haben wir Regel Nummer Eins befolgt: möglichst viel Spaß haben. Und ich habe herausgefunden, wie ich wirklich bin: ein wenig steif, zu befangen, um meine Gefühle öffentlich darzustellen, aber immerhin neugierig genug, um in einer Weise zu experimentieren, in der ich das auf den Philippinen bestimmt nicht fertiggebracht hätte. Vielleicht werde ich eines Tages in der Lage sein, von mir sagen zu können: "körperlich eingeschränkt, aber geistig gesund". Und vielleicht werde ich das sogar sogar in einem Shibari Yoga-Kontext sagen können. Fürs Erste habe ich jetzt einen neuen Weg entdeckt, Berlin kennenzulernen – und vor allem einen, den ich zu Hause niemals ausprobiert hätte. Wenn Shibari Yoga mich eins gelehrt hat, dann ist es die Erkenntnis, dass Sexualität und Spiritualität flexible Konzepte sind, die man durch bewusste Wahl, Praxis und Neugier steuern kann –und dass sogar Einschränkungen befreiend sein können.