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Politik

Unmut über Netanjahu in Israel wächst

Tania Krämer Jerusalem
20. Juli 2020

Mehr Corona-Infektionen, mehr Arbeitslosigkeit, mehr Proteste und dann auch noch Korruptionsvorwürfe: In Israel nehmen die Demos gegen die Politik des Ministerpräsidenten zu. Netanjahu gerät zunehmend unter Druck.

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Demonstranten vor Netanjahus Wohnsitz in Jerusalem werden von Wasserwerfer getroffen
Die Polizei setzt Wasserwerfer gegen Demonstranten vor Netanjahus Wohnsitz in Jerusalem ein Bild: picture-alliance/AP Photo/O. Balilty

Zwei Stunden Autofahrt hat Maggie Shahar auf sich genommen, um an einer Demonstration vor der Residenz des Ministerpräsidenten in Jerusalem teilzunehmen. "Die Situation ist schlecht. Ich weiß nicht, ob ich etwas daran verändern kann, aber ich tue zumindest mein Bestes, um nicht still zu halten," sagt Shahar, eine junge Schulpsychologin, die gemeinsam mit Lehrern ihrer Schule zur Demo gekommen ist.

"Zuerst geht es mir um den Ministerpräsidenten Bibi (Anmerk. der Redaktion: Benjamin Netanjahu), er steht vor Gericht und ist immer noch Ministerpräsident. Und dann um all das, was COVID-19 betrifft. Nichts scheint unter Kontrolle zu sein. Man hat das Gefühl, es gibt die Leute da oben - den Ministerpräsidenten und seine Kollegen - und uns, das Volk."

"Panik in der Balfour-Straße"

In den vergangenen Wochen sind tausende Israelis auf die Straße gegangen, Lehrer, Sozialarbeiter, Selbstständige, Kleinunternehmer, junge und ältere Menschen, um gegen die Corona-Schutzmaßnahmen der Regierung zu demonstrieren. Die wirtschaftlichen Folgen sind für viele Bürger äußerst schmerzhaft.

Auch Krankenschwestern haben einen Streik angekündigt. Die sogenannte "Schwarze Flaggen Bewegung" ist auf jeder Demo vertreten: Deren Anhänger sehen eine Gefahr für Israels Demokratie und fordern den Rücktritt Netanjahus.

Am Sonntag, nach einer Nacht mit erneuten Protesten in Tel Aviv, Jerusalem und anderen Orten, schrieb Kolumnist Ben Caspit in der Tageszeitung Ma'ariv: "Die Öffentlichkeit geht auf die Straße. Diesmal ist es nicht nur ein spezifischer Sektor: Es umspannt alle politische Lager und Herzen. Netanjahu versteht, was hier passiert, und das wird die Panik und den Wahnsinn in der Balfour Straße (Anmerk. der Red.: Adresse des Ministerpräsidenten  in Jerusalem) in den kommenden Wochen noch weiter erhöhen."

Kritiker Netanjahus demonstrieren mit Protestschildern und Mundschutz vor dem Wohnsitz des Premiers in Jerusalem
Bereits am 10. Juli demonstrierten Kritiker Netanjahus vor dem Wohnsitz des Premiers in JerusalemBild: picture-alliance/dpa/D. Hill

Kritik am Corona-Management

Auch wenn die Umfragewerte des israelischen Ministerpräsidenten mittlerweile stark nachgelassen haben -  Netanjahus Likud ist laut Umfragen noch immer stärkste Partei - zumindest bis jetzt. Für einige Demonstranten macht die sogenannte "nationale Notstandsregierung", die sich eigentlich um die Corona-Krise kümmern sollte, ihren Job nicht richtig.

"Die meisten hier wollen, dass Bibi geht. Wir wollen einfach eine verantwortungsvolle Regierung, die ihre Bürger respektiert. Wir wollen nicht unbedingt alle Politiker ersetzen, aber wir wollen, dass sie ihre Versprechen einhalten," sagt Amit Tschisik, ein junger Sozialarbeiter aus Haifa, der mit autistischen Kindern arbeitet. "Die Leute müssen die Situation verstehen. Wenn einige von uns den Job verlieren, dann betrifft es alle von uns. Und wir sind gekommen, um auch für die zu sprechen, die aus Angst vor Corona nicht kommen."

Zweite Welle und das Chaos

Noch zu Beginn wurde Benjamin Netanjahu für sein schnelles Handeln in der Corona-Krise gepriesen, darunter das frühe Schließen der Landesgrenzen. Der Wirtschaft hat dies weniger gut getan: Die Arbeitslosigkeit stieg von rund vier Prozent auf über 25 Prozent im April. Dafür war Anfang Mai die Corona-Infektionsrate soweit rückläufig, dass Israel die teilweise Ausgangssperre und Beschränkungen wieder aufhob. Das Virus schien zunächst eingedämmt.

Benjamin Netanjahu bei einer Ansprache am 14. März in Jerusalem
Zu Beginn der Coronakrise wurde Netanjahu für sein Krisenmanagement gelobtBild: picture-alliance/dpa/G. Tibbon

Zwei Monate später allerdings befindet sich das Land nach Meinung von Beobachtern mitten in einer zweiten Coronavirus-Welle. In den letzten Tagen schnellten die Infektionszahlen mit fast 2.000 Neuinfektionen pro Tag in die Höhe. Gesundheits- und Wirtschaftsexperten machen unter anderem eine fehlende Planung, ein nicht ausreichend funktionierendes Track- und Tracing-System und die erratischen Entscheidungsprozesse der Regierung dafür verantwortlich.

Und der Unmut scheint nicht weniger zu werden, genauso wie wachsende Angst vor der Pandemie. Mittlerweile ist Arbeitslosenrate auf 21 Prozent  gestiegen. Am vergangenen Freitag kündigte Regierungschef Netanjahu deshalb neue Einschränkungen an.

Dabei half es wenig, dass er vor kurzem eingestand, die Lockerungen möglicherweise zu früh zugelassen zu haben, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. "Die Regierung hat es versäumt, lang- und mittelfristige Lösungen zu finden. Es gibt keine Planung, keine Transparenz", schrieb Amos Yadlin, Direktor des Instituts für Nationale Sicherheitsstudien in der Tageszeitung Yedioth Ahoronoth am Sonntag.

Umstrittenes Wirtschaftspaket

In der Zwischenzeit ging auch der Prozess gegen Netanjahu weiter. Bei dem Gerichtstermin am vergangenen Sonntag musste er allerdings nicht persönlich anwesend sein. Das Gericht legte fest, dass ab Januar 2021 mit der Zeugenvernehmung begonnen wird. Netanjahu, der die Vorwürfe zurückweist, muss sich wegen des Verdachts auf Korruption, Betrug und Vertrauensbruch in drei Fällen verantworten.

Ein schneller Prozess könnte noch mehr Druck auf den Ministerpräsidenten ausüben. Letzte Woche schlug Netanjahu einmalige und direkte Geldhilfen vor und rief seine Mitbürger auf, Geld auszugeben und möglichst einheimische Produkte zu kaufen. Das Hilfspaket sieht vor, das jeder volljährige Israeli einmalig umgerechnet rund 190 Euro und Familien mit drei oder mehr Kindern rund 750 Euro erhalten sollen.

"Sagt danke und bleibt zuhause"

Doch selbst dieses Vorhaben stößt auf Kritik. Am Montag teilte das Büro des Ministerpräsidenten mit, dass Besserverdiener und Beamte im höheren Dienst von den Geldhilfen ausgenommen werden. Kritiker hatten angemerkt, dass universelle Geldhilfen auch an Bürger gehen würden, die das Geld nicht benötigen oder die keinen finanziellen Schaden durch die Pandemie erlitten hätten.

"Es ist nichts, es ist ein Witz. Und es fühlt sich ein wenig so an, als ob Netanjahu uns damit sagen will, sagt danke und bleibt zuhause," sagt Anat Maimon. Die junge Lehrerin ist mit ihrem Ehemann zu der Demonstration in Jerusalem gekommen. Ihr Mann hat durch Corona seinen Job als Fussballtrainer verloren.

"Klar, die meisten Leute hier um mich herum haben genug von Netanjahu, aber ich bin mir nicht sicher, ob man das von allen Israelis sagen kann", sagt Maimon und fügt hinzu. "Ich möchte jemanden sehen, der sich um die Sorgen der Menschen kümmert, bei dem wir die Nummer eins sind. Im Moment fühlt es sich so an, als ob niemand den Bürgern zuhört."

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin