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GesellschaftTürkei

Unternimmt die Türkei zu wenig gegen Gewalt an Kindern?

Burak Ünveren | Pelin Ünker
24. September 2024

Der Mord an einer Achtjährigen erschüttert die Türkei. Dabei ist er kein Einzelfall. Wie viele Gewalttaten an Kindern verübt werden, wird aber von den türkischen Behörden nicht erfasst. Experten kritisieren das scharf.

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"Sichere Welt, sicheres Leben für Kinder, Gerechtigkeit für Narin" auf dem Plakat. Viele Frauen nehmen an einer Demonstration teil
"Eine sichere Welt, ein sicheres Leben für Kinder": Landesweit forderten Menschen "Gerechtigkeit für Narin"Bild: Anka

"Zierlich", "empfindlich", "zart", "zerbrechlich". So kann man Narins Namen ins Deutsche übersetzen. Der Fall der achtjährigen Narin ist seit Wochen eines der Topthemen in den türkischen Medien. Das Mädchen aus dem Dorf Tavşantepe nahe der südosttürkischen Stadt Diyarbakır wurde vor Wochen als vermisst gemeldet, ihre Leiche wurde am 8. September am Rande eines nahegelegenen Flusses in einem Sack gefunden. Die Tat erschütterte das ganze Land. Auch in den sozialen Medien gab es unzählige Meldungen und Kommentare über den Fall. Inzwischen besuchte der Justizminister Yılmaz Tunç das kurdische Dorf, Präsident Recep Tayyip Erdoğan versprach Aufklärung auf X. Beide sagten: Die Täter würden "die härteste Strafe" erhalten.

Einer der Gründe für die landesweite Empörung: Das ganze Dorf, in dem rund 550 Menschen leben, schweigt. Mehrere Familienmitglieder – inklusive Narins Eltern – sind tatverdächtig und befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt zwölf Menschen wurden bisher verhaftet, darunter auch Narins Onkel, der Dorfvorsteher von Tavşantepe. Gerichtsmedizinern zufolge wurde das Mädchen erwürgt. Die Öffentlichkeit geht davon aus, dass zumindest jemand aus diesem Dorf wissen muss, wer Narin ermordet hat – aber niemand spricht.

In diesem Flussbett wurde die Leiche der achtjährigen Narin gefunden
In diesem Flussbett wurde die Leiche der achtjährigen Narin gefundenBild: Felat Bozarslan/DW

"Die Türkei steht vor einem komplexen Fall. Der Täter wird von der Familie des Opfers und deren nahem sozialen Umfeld geschützt", sagt Halis Dokgöz, Gerichtsmediziner und Direktor des Kinderschutzzentrums der Universität Mersin. Das Leben in der Region ist eher traditionell-konservativ geprägt und basiert auf Stammesstrukturen. In solchen Gemeinschaften komme es häufiger vor, dass Kinder "objektiviert" werden – und damit deren Tod heruntergespielt wird, so Dokgöz: "Üblicherweise ist der Täter in solchen Fällen jemand, den das Kind bereits kennt."

Präventive Politik fehlt

Narin ist kein Einzelfall. Laut dem türkischen Zentrum für Kinderrechte (FISA) wurden in den vergangenen zweieinhalb Jahren mindestens 64 Kinder ermordet, oft infolge häuslicher Gewalt. Das Zentrum sammelt seine Daten aus öffentlich zugänglichen Quellen. Seit 2016 veröffentlichen türkische Behörden keine offiziellen Daten mehr zu getöteten oder vermissten Kindern. Den letzten veröffentlichten Statistiken zufolge wurden im Zeitraum von 2008 bis 2016 landesweit 104.531 Kinder als vermisst gemeldet. Unklar ist heute nicht nur, wie viele weitere Fälle seitdem hinzugekommen sind, sondern auch, wie viele dieser Kinder mittlerweile - tot oder lebend - gefunden wurden.

Experten kritisieren die mangelnde Transparenz und fehlende präventive Politik in diesem Bereich und fordern eine systematische Sammlung und Veröffentlichung von Informationen zu den vermissten Kindern. "Um eine politische Lösung des Problems vorantreiben zu können, sind wir auf Daten angewiesen", sagt FISA-Expertin Ezgi Koman. Auch der UN-Ausschuss für Kinderrechte (CRC) appelliere schon seit Jahren an die türkischen Behörden, die entsprechenden Informationen bereitzustellen. "Falls ihnen doch Daten vorliegen, sie diese aber verheimlichen, dann würde das bedeuten, dass sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden wollen. Oder sie wollen verhindern, dass der Ernst der Lage ans Tageslicht kommt. Oder die Kinder sind ihnen einfach egal", so Koman. Das türkische Familienministerium sowie die Zentrale Statistikbehörde (TUIK) haben trotz einer DW-Anfrage hierzu bislang keine Stellungnahme abgegeben.

Außerdem stellte die Opposition eine parlamentarische Anfrage an die Regierung – erhielt aber ebenfalls keine Antwort. Die 15-Tage-Frist für die Antwort lief am Donnerstag ab. Die Opposition wollte unter anderem wissen, wie viele Kinder seit 2016 vermisst werden. Den Angaben der Opposition zufolge sollen es mehr als 10.000 sein. Burhanettin Bulut, Oppositionspolitiker der Republikanischen Volkspartei (CHP), sagte, die mangelnde Transparenz in diesem Bereich sei eine "Schande" für die Regierung.

Narins Haus, Soldaten sind vor dem Haus
In diesem Haus lebte Narin, bevor sie ermordet wurdeBild: Hozan Adar/DW

"Kinder müssen ihre Rechte kennen"

Stünden derartige Daten zur Verfügung, sagt der Forensiker Halis Dokgöz, könnten Gerichtsmediziner, Sozialarbeiter, Psychologen und Polizei präventive Strategien entwickeln, um derartige Fälle womöglich zu verhindern. "Momentan wissen wir gar nichts. Wir verfolgen einen Fall erst dann, wenn er öffentlich bekannt geworden ist. Und wenn wir dies tun, fokussieren wir uns bloß auf die Frage: 'Wer ist der Mörder'? Das ist falsch", so Dokgöz. Ihm fehlt es bei den Behörden an der Motivation, nachhaltige Lösungen bei der Vorbeugung solcher Fälle zu entwickeln.

Dies sieht auch Şahin Antakyalıoğlu, Koordinator des Netzwerks der Anwälte für Kinderrechte (ÇAÇAV), so. Es brauche ein öffentlich verfügbares Warnsystem mit allen Daten und "eine grundlegende, lösungsorientierte Politik" für den Schutz der Kinder. Dazu zähle etwa auch eine leicht zugängliche Hilfe-Hotline, die alle Kinder anrufen können, unabhängig davon, ob sie in der Stadt oder auf dem Dorf leben. Und, so Antakyalıoğlu, "ein Bildungssystem, das den Kindern beibringt, welche Rechte sie besitzen."

Leben zwischen Schutt und Ruinen

Es mache "keinen Sinn, einem Kind Rechte zu gewähren, wenn dieses Kind selbst davon nichts weiß", so Antakyalıoğlu. "Erzählen wir den Kindern, wo sie sich melden können, wenn einer sie anfasst? Wir müssen damit anfangen, ihnen diese Dinge bereits in der Vorschulzeit beizubringen. Kinder müssen imstande sein, zu erzählen, wenn jemand sie zu etwas zwingt", fordert Antakyalıoğlu. Solange es der Türkei nicht gelinge, all diese Schritte zu unternehmen, befürchtet der Kinderrechtsanwalt, werde die türkische Gesellschaft immer wieder von Fällen wie dem der achtjährigen Narin erschüttert werden.

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.