Unterwegs mit dem Freedom Express
12. September 2014Hanna Hrabarska kann kaum mehr die Augen offen halten. Es ist fast Mitternacht und der Tag für die 28-jährige Kiewerin war schon lang: Heute früh ist sie mit dem Bus aus Prag nach Berlin gekommen, hat dann auf dem Fahrrad ein paar Sehenswürdigkeiten erkundet, anschließend an einem Podiumsgespräch über europäische Erinnerungskultur teilgenommen und danach mit der deutschen Kulturstaatsministerin über die Bedeutung der Ereignisse des Herbstes 1989 für junge Leute heute diskutiert. "Mit Revolutionen ist es offenbar wie mit dem Verliebtsein", sagt die Ukrainerin. "Erst ist es ein Rausch, die Leute sind begeistert und voller Hoffnung. Danach macht sich Ernüchterung breit. Es wird nicht von heute auf morgen alles gut. Wandel ist kein Wunder – es ist Arbeit. Ein Prozess."
Bustour durch den ehemaligen Ostblock
Was wissen junge Leute, 25 Jahre später, über die Herbstrevolutionen in den Ländern des ehemaligen Ostblocks? Welchen Einfluss haben sie auf ihre Lebensrealität? Um Antworten auf solche Fragen zu finden, hat das Europäische Netzwerk für Erinnerung und Solidarität den "Freedom Express" organisiert: Am 29. August 2014 dieses Jahres starteten 20 Studierende aus zehn verschiedenen Ländern auf eine Bustour an die Orte der Ereignisse, die Europa verändert haben: Von Danzig ging es über Warschau nach Budapest, dann über Timisoara, nach Sopron, Bratislava und Prag – schließlich nach Berlin.
Überall trafen die Studierende Akteure des Herbstes '89, besuchten ehemalige Grenzübergänge und Gefängnisse oder verhandelten in Workshops als Oppositionelle über Forderungen nach bürgerlichen Grundrechten. Jeden Tag fotografierten und filmten sie und hielten ihre Erlebnisse in einem Blog fest. Auch in Berlin stehen bis Sonntag noch ein Besuch der Gedenkstätte Berliner Mauer, ein Besuch im DDR-Museum, ein Treffen mit Vertretern der "Dritten Generation Ostdeutschlands" und ein Foto-Workshop im ehemaligen Todesstreifen an. "Wir waren gnadenlos, die mussten einiges absolvieren", scherzt Rafal Rogulski, der Direktor des in Warschau ansässigen Netzwerks. Aber: "Wir wollten, dass die jungen Leute die Geschichte der einzelnen, sehr verschiedenen Länder respektieren. Dass sie deren Besonderheiten besser verstehen und, dass sie spüren, dass unsere Identität und die Identität der sogenannten westlichen Länder dieselbe Basis hat."
Streit über den Wert von Freiheit und Demokratie
Reibungslos sei das natürlich nicht immer gewesen, erzählt Hanna. Bei einem Treffen mit Regierungsvertretern in Ungarn sei zum Beispiel eine heftige Debatte unter anderem über den Wert von Pressefreiheit entbrannt. "Es gibt Zensur in Ungarn, in einem EU-Land, das ist doch völlig inakzeptabel!", empört sie sich noch Tage später. Und ihr Eindruck, dass viele Leute die ungarische Politik einfach hinnehmen würden, verbittere sie besonders, wenn sie daran denke, mit wieviel Aufopferung ihre Landsleute in der Ukraine ganz aktuell für Freiheit und Demokratie kämpfen müssten.
Anna Rubi aus Ungarn wiederum erzählt, an diesem Tag habe sie gemerkt, dass man Geschichte aufarbeiten muss, dass man ihr nicht davonlaufen kann. Obwohl sie selbst schon lange in Zürich lebe und mit der ungarischen Politik nicht einverstanden sei, habe sie die Menschen in ihrem Geburtsland verteidigen wollen. "Es heißt so oft, die jungen Leute würden nicht handeln. Oder es gäbe keine funktionierende Zivilgesellschaft in Ungarn. Aber so etwas braucht eben Zeit! Viele Menschen waren vollkommen orientierungslos nach 1989. Und ich kenne viele junge Leute, die wie ich ins Ausland gegangen sind und zurückkehren wollen, um etwas zu ändern."
Freiheit immer wieder neu erkämpfen
Trotz Meinungsverschiedenheiten: vor allem die tägliche Arbeit am gemeinsamen Blog hat die Freedom-Express-Besatzung letztlich zusammengeschweißt. Der Wunsch, sich uneingeschränkt ausdrücken zu können, in aller Vielfalt, das sei offenbar oft der Beginn von Freiheit, sagt Ronald Wendorf, ein Teilnehmer aus Deutschland. "Das ist mir bei unseren vielen Gesprächen mit Künstlern aufgefallen, die im Herbst 89 aktiv waren. Die wollten gar nicht unbedingt in 'den Westen'. Die wollten einfach ihre Kunst machen können. Sie wollten selbstbestimmt sein." Und deshalb sei Freiheit auch heute nicht selbstverständlich. "Wir können heute vielleicht alles sagen und schreiben. Aber ob die NSA mitliest, das wissen wir nicht. Wir müssen heute für unsere Privatsphäre kämpfen und dafür, dass wir wissen, was mit unseren Daten passiert. Sonst wird uns wieder jemand fremdbestimmen."