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Verdi in Theresienstadt

Sarah Judith Hofmann 4. März 2014

Vor 70 Jahren sangen 150 Häftlinge in Theresienstadt Verdis "Messa da Requiem". Edgar Krasa war einer von ihnen. Jetzt wurde das "Defiant Requiem" in Berlin aufgeführt - und Krasas Söhne standen mit auf der Bühne.

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Konzert-Drama "Defiant Requiem" (Foto: Josef Rabara)
Bild: Josef Rabara

Raphael Krasa ist ein Kumpeltyp, einer, den man sich als Bruder wünscht. Groß, breite Schultern, lautes Lachen. Man kann sich vorstellen, wie er als Jugendlicher Footballspiele gewonnen hat. "Ich glaubte eine Zeitlang, ich sei unverwundbar", sagt er. "Ich dachte, niemand könne mich besiegen, weil meine Eltern den Holocaust überlebt hatten. Wenn sie das geschafft haben, dachte ich, kann ich alles schaffen." Seine Eltern hätten ihm und seinem Bruder Dani alle Fragen über den Holocaust und über ihre eigenen Erlebnisse beantwortet. "Nur ist es so, dass man darüber nicht gerade beim Abendbrot spricht."

Familie Krasa (Foto: Uwe Steinert)
Raphael, Hana, Edgar und Dani Krasa (von links)Bild: Uwe Steinert, Berlin

Bis an einem Abend das Telefon klingelte und der amerikanische Dirigent Murry Sidlin am Apparat war. Er hatte in einem Buch gelesen, dass 1944 im Ghetto Theresienstadt Verdis "Messa da Requiem" aufgeführt worden sein sollte unter der Leitung des tschechischen Dirigenten Raphael Schächter. Er konnte es nicht glauben. Giuseppe Verdis anspruchsvolle Totenmesse, gesungen auf Latein, ohne Notenhefte, von unterernährten, verzweifelten Menschen? Das Unmögliche wollte er von Menschen hören, die dabei waren und stieß über viele Umwege auf die Telefonnummer von Edgar Krasa. Ob ihm der Name Raphael Schächter etwas sage, wollte er wissen? "Ich habe meinen Sohn nach ihm benannt", antwortete Edgar Krasa. Sidlin hatte gefunden, wen er suchte, und der damals 30-jährige Raphael erfuhr zum ersten Mal, welche Bedeutung sein Name für das Leben seiner Eltern hat.

Auf der Bühne: Iris Berben - und die Familie Krasa

Fast zehn Jahre ist dieser Anruf mittlerweile her. Jetzt sind Raphael, sein Bruder Dani und die Eltern Hana und Edgar Krasa ins Jüdische Museum Berlin gekommen, um über Verdis Totenmesse zu sprechen. Am Dienstag (04.03.2014) wurde sie unter dem Titel "Defiant Requiem" im Konzerthaus Berlin aufgeführt unter der Leitung von Murry Sidlin, organisiert vom Jüdischen Museum Berlin. Nach Konzerten in Budapest, Prag, Israel und den USA wurde das "Requiem des Trotzes" - so die wörtliche Übersetzung ins Deutsche - nun erstmals auch in Deutschland gesungen. Neben den Schauspielern Iris Berben und Ullrich Matthes standen gemeinsam mit dem Jungen Chor Berlin auch Dani und Raphael Krasa auf der Bühne. Ein Erinnerungskonzert an die Aufführung im Ghetto Theresienstadt vor 70 Jahren und eine Hommage an Raphael Schächter.

Rafael Schächter (© Courtesy of the Schächter Family)
Musik als Akt des Widerstands: Der Dirigent Raphael SchächterBild: Courtesy of the Schächter Family

"Er war ein sehr freundlicher Mann", erinnert sich Edgar Krasa an den Dirigenten aus Theresienstadt. "Aber wenn es zum Proben kam, wurde er zum Tyrann." Der alte Mann schmunzelt. 93 Jahre ist Edgar Krasa alt, und doch ist seine Erinnerung noch wach. Er spricht in Berlin auf Deutsch, seiner einstigen Muttersprache, die er seit Jahrzehnten in Israel und den USA kaum noch praktiziert. Nur ab und an streut er englische Wörter in seine Erzählung ein. 1941 wurde er nach Theresienstadt deportiert, jenes "Modelghetto" unweit von Prag, mit dem die Nationalsozialisten der Welt auf perfide Art zeigen wollten, dass es den Juden in extra für sie eingerichteten Städtchen doch gut ginge.

Verdi als Akt des Widerstands

Theresienstadt stand pro forma unter jüdischer "Selbstverwaltung" eines so genannten Ältestenrats. Die Inhaftierten mussten für die Organisation von Unterbringung, Nahrung, medizinischer Hilfe selbst sorgen. De facto hatte auch hier die SS das Sagen, war der Alltag von Hunger, Tod, der ständigen Angst vor der Deportation nach Auschwitz, geprägt. Außergewöhnlich an Theresienstadt war, dass in das Lager besonders viele berühmte Wissenschaftler und Künstler gebracht wurden. Einer von ihnen war der Dirigent Raphael Schächter. Edgar Krasa schlief mit ihm in derselben Baracke. "Er sang mit uns tschechische Volkslieder", erinnert er sich, "das gab uns Mut".

Porträt von Edgar Krasa, Zeichnung von Leo Haas in Theresienstadt, 1943 (© USHMM, courtesy of Edgar and Hana Krasa)
Edgar Krasa als junger Mann in Theresienstadt, gemalt vom Künstler Leo HaasBild: USHMM, courtesy of Edgar and Hana Krasa

Und schließlich das Requiem. Nicht eine Messe für die ermordeten Juden wollte Schächter einstudieren, sondern die Häftlinge eine Drohung an die Nazis aussprechen lassen, dass sie ihrer gerechten Strafe nicht entkämen. Verdis Gesänge umgedeutet als Akt des Widerstands: "Tag des Zornes, Tag der Sünden, / Wird das Weltall sich entzünden, /(...) / Sitzt der Richter dann zu richten, / Wird sich das Verborgne lichten; / Nichts kann vor der Strafe flüchten."

"In diesem Moment fühlten wir uns frei"

Geprobt wurde in den Baracken, Männer und Frauen getrennt. "Keine Ahnung, wie Schächter es geschafft hat, in die Frauenbaracken zu kommen", sagt Krasa, "ich selbst habe das oft versucht und es ist mir nie gelungen." Wieder dieses Schmunzeln. Die Texte mussten Krasa und die anderen auswendig lernen. Allein Schächter besaß ein einziges Notenbuch des Requiems, Papier zur Vervielfältigung war Mangelware im Lager und die Proben darüber hinaus hoch gefährlich. Per Mund-zu-Mund-Propaganda erfuhren die Inhaftierten des Ghettos von den ersten Aufführungen. Auch Hana, die zu diesem Zeitpunkt ihren späteren Ehemann Edgar Krasa noch nicht getroffen hatte. "Es war nicht leicht, Tickets für eine der Aufführungen zu bekommen", erinnert sie sich, "einer Bekannten ist es schließlich gelungen. Dann saßen wir in den Baracken auf dem Boden. Die wenigen Stühle waren für die Alten reserviert." 150 Chorsänger standen auf der Bühne, vier Solisten und ein Pianist. "Es gab kein Orchester, nur ein Klavier. Doch es war, als hörten wir eines. In diesem Moment fühlten wir uns frei." Die Aufführung zu sehen, habe ihr damals sehr viel Kraft gegeben, sagt Hana. "Wir sangen an gegen die Hoffnungslosigkeit", sagt Edgar Krasa.

Aufführung des Defiant Requiem im St.-Veits-Dom in Prag, 2. Juni 2013 (© Defiant Requiem Foundation, Foto: Josef Rabara)
Erstmals wird das "Defiant Requiem" in Berlin aufgeführt, hier ein Bild des Konzerts in Prag 2013Bild: Josef Rabara

16 Mal führten Schächter und sein Chor das Requiem in Theresienstadt auf. Zuletzt vor denen, an die die drohenden Worte Verdis gerichtet waren. Am 23. Juni 1944 führten die Nationalsozialisten ihr "Musterghetto" Theresienstadt dem Roten Kreuz vor. Der Höhepunkt ihres Besucherprogramms: Verdis "Messa da Requiem". "Niemand applaudierte", erinnert sich Krasa, "nicht die Deutschen, nicht das Rote Kreuz." Sie hatten verstanden.

Am 16. Oktober 1944 ließ die SS den Dirigenten und seinen verbliebenen Chor nach Auschwitz abtransportieren. Fast alle wurden direkt nach der Ankunft im Vernichtungslager ermordet oder starben auf einem der Todesmärsche. Wann und wie genau Raphael Schächter umgebracht wurde, ist unbekannt. Auch Edgar Krasa weiß es nicht. Ihm und seiner Frau, so sieht es Krasa, hat er mit der Musik das Leben gerettet. Bei der Aufführung in Berlin wird neben den beiden Söhnen auch ein Enkelsohn im Chor singen und die Erinnerung an das Requiem in Theresienstadt eine Generation weitertragen.