Afghanistan Verhandlungen?
7. Oktober 2011Als im Dezember 2001 auf dem Petersberg bei Bonn das 'neue' Afghanistan ausgehandelt wurde, saß der Feind nicht mit am Tisch. Doch was vor zehn Jahren noch absolut undenkbar war, formuliert die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton heute so: "Ich weiß, dass es widerlich und unvorstellbar klingt, sich mit jemandem zu versöhnen, der so brutal ist wie die Taliban." Das sei kein schönes, aber ein notwendiges Geschäft. "Natürlich wäre Diplomatie viel einfacher, wenn wir nur mit unseren Freunden reden müssten. Aber so macht man keinen Frieden."
Das westliche Bündnis will nach zehn Jahren das Tempo anziehen. Doch der 20. September 2011 hat einmal mehr die afghanische Realität gezeigt. An diesem Tag wurde der Vorsitzende des Hohen Friedensrates, Burhanuddin Rabbani, von einem Selbstmordattentäter mit in den Tod gerissen. Ausgerechnet der umstrittene, aber mächtige Ex-Präsident Rabbani hatte von seinem Amtsnachfolger Hamid Karsai den Auftrag erhalten, mit den Aufständischen über eine politische Lösung zu verhandeln. Bis heute hat sich niemand eindeutig zu dem Attentat bekannt.
Die afghanische Regierung beschuldigt das Nachbarland Pakistan, in den mörderischen Anschlag verwickelt zu sein. Präsident Karsai hat verbittert zu Protokoll gegeben, dass seine Regierung nicht länger mit den Taliban, sondern nur noch direkt mit Pakistan über den Frieden verhandeln werde. Alles andere mache aus seiner Sicht "keinen Sinn", da das Nachbarland "ein doppeltes Spiel" im Krieg gegen den Terror treibe. In der Tat deutet vieles darauf hin, dass Pakistan sein Nachbarland als Faustpfand im Kampf gegen den verhassten Erzrivalen Indien nicht verlieren will. Aber der afghanische Frieden hat viele Feinde - nicht nur Pakistan.
Es gibt viel Wunschdenken
Henning Riecke beobachtet mit Sorge, dass die USA und ihre NATO-Verbündeten das Gespräch mit dem Feind unter Zeitdruck suchen. Der Wissenschaftler leitet den Programmbereich USA und transatlantische Beziehungen bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. "Es ist eine Realität im Kriegsgeschehen und bei der Lösung von Konflikten, dass man mit dem Gegner verhandeln muss."
In Afghanistan sei allerdings noch total offen, mit welchen Partnern und mit welchen Angeboten eine Verhandlungsatmosphäre erreicht werden könne. "Da ist bei uns sehr viel Wunschdenken vorhanden, als seien Verhandlungen das alleinige Wundermittel, dass man nur anwenden muss, um den Konflikt zu beenden. Ich glaube, wir werden noch viele Rückschläge erleben."
Der militärische Rückzug ist trotzdem schon beschlossene Sache. Die Vereinigten Staaten stellen zwei Drittel der rund 130.000 internationalen Soldaten in Afghanistan, doch die hochverschuldete Supermacht ist kriegsmüde und muss sparen. Präsident Barack Obama hat öffentlich angekündigt, dass die amerikanischen Kampftruppen bis 2014 aus Afghanistan abziehen sollen. Das macht schnelle Verhandlungen mit dem Feind zwingend erforderlich und lässt den anderen NATO-Partnern kaum eigenen Spielraum.
"Ich glaube schon, dass es eine Lehre aus Afghanistan ist, dass man sich selber auch belügen kann", sagt Sicherheitsexperte Henning Riecke. Am Anfang hätten ja auch viele westliche Politiker behauptet, dass Afghanistan eine Demokratie nach westlichem Vorbild werden könne. "Ich bin überzeugt, dass man mit dem Abzugsdatum hätte vorsichtiger sein müssen. Ich glaube, dass die Situation in Afghanistan den Abzug jetzt noch nicht rechtfertigt. Ich glaube, es gibt ein großes Risiko, dass man ein Land im Bürgerkrieg zurücklässt." Das konstante Reden über den Abzug hält er für "Schönrednerei".
Es gibt keinen Konsens
Als das westliche Bündnis nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in Afghanistan eingriff, hatte das Herzland Zentralasiens bereits zwei Jahrzehnte Krieg hinter sich: zuerst den Befreiungskampf gegen die sowjetischen Besatzungstruppen, dann den bestialischen Bruderkampf um die Macht in Kabul.
Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network ist der Meinung, "dass viele der Bruchlinien, Narben und Traumata des Bürgerkriegs noch da sind." Es gebe unter den Afghanen "ein tiefes Misstrauen schon gegen den eigenen Nachbarn." Deswegen existiere in der afghanischen Gesellschaft auch kein Konsens darüber, ob eine Verhandlungslösung mit den Aufständischen wirklich anzustreben sei. "Diesen Konsens muss man erst mal mit all den politischen und sozialen Kräften finden, die in Afghanistan heute eine Rolle spielen", fordert Ruttig. "Erst dann kann man gemeinsam in Gespräche mit den Taliban gehen."
Die Ausgangslage für Verhandlungen ist denkbar schwierig. Der Krieg tobt weiter, ein Waffenstillstand ist nicht in Sicht, keines der politischen Lager in Afghanistan ist eine homogene Gruppe. Hinter Sammelbegriffen wie 'Taliban' und 'Aufständische' verbergen sich mindestens drei große Gruppen mit ihren schnell wechselnden Verbündeten: die Quetta-Schura um Mullah Omar, das Netzwerk der Familie von Jalaluddin Haqqani und die Hezb-e-Islami von Gulbuddin Hekmatyar. Alle drei unterhalten enge Kontakte ins Nachbarland Pakistan, alle drei haben ausländische Dschihadisten in ihren Reihen, alle drei sind paschtunisch geprägt.
Es ist sehr spät
Die Paschtunen leben überwiegend in der Südhälfte Afghanistans entlang der pakistanischen Grenze und stellen mit 40 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe, doch der afghanische Dauerkrieg hat ihre Stammes- und Clanstrukturen zersplittert. Ihr Siedlungsgebiet wird von der umstrittenen afghanisch-pakistanischen Grenze zerschnitten. Keine Bevölkerungsgruppe leidet mehr unter der Gewalt der Intervention. Es ist unklar, wer aus diesem Lager überhaupt zu Gesprächen bereit ist. Westliche Politiker verwenden gerne den Begriff 'moderate Taliban', wenn sie darauf angesprochen werden.
Auch Gunter Mulack, Deutschlands ehemaliger Botschafter in Pakistan, benutzt ihn: "Es gibt die sogenannten moderaten Taliban. Damit meine ich die Taliban, die heute schon in Kabul leben und zugänglich sind wie Mullah Zaeef. Er war ja auch schon auf einer Konferenz mit dem Auswärtigen Amt in Berlin anwesend, was ich sehr gut fand. Mit denen müssen wir reden." Aber das seien natürlich nicht "die Taliban", so Mulack. "An Mullah Omar oder an das Haqqani-Netzwerk heranzukommen, dürfte sehr, sehr schwer sein." Mulack ergänzt: "Dazu braucht es Pakistan". Doch Pakistan ist ein instabiles Land mit vielen internen Rissen und Brüchen.
Der ehemalige Diplomat wirft den USA vor, zu lange darauf vertraut zu haben, "das Phänomen der Taliban in Afghanistan und Pakistan durch militärische Gewalt in den Griff kriegen." Deswegen sei es inzwischen sehr spät für eine politische Lösung. "Es ist noch nicht zu spät, aber es ist sehr spät." Mulack hofft, dass es in einem ersten Schritt gelingt, "die ideologisch nicht verbrämten Stammeskrieger, die nur zu den Waffen greifen, weil sie die Amerikaner als Besatzer empfinden, am Aufbau Afghanistans zu beteiligen."
Es gibt viele Interessen
Was die Situation noch schwieriger macht: Die andere politische Hälfte Afghanistans, die sich mit der internationalen Gemeinschaft verbündet hat, ist genauso zersplittert. Hier finden sich Präsident Hamid Karsai und sein Clan, ebenfalls paschtunisch. Hier finden sich neue, multiethnische Gruppen, die erst durch die westliche Intervention entstanden sind. Und hier finden sich vor allem die alten Kampfverbände der nördlichen Bevölkerungsgruppen Afghanistans: der Tadschiken, Usbeken und Hazara. Sie haben zwar gemeinsam gegen die Taliban-Bewegung gekämpft, doch diese Nordallianz ist ein reines Zweckbündnis ohne gemeinsames Konzept für die Zukunft.
Auch in ihren Reihen gibt es Verbrecher, Islamisten und Gegner der neuen Verfassung. Alle haben eigene Verbündete und Geldgeber im Ausland. Neben Pakistan und Iran buhlen Indien und China, die Türkei, Russland und die zentralasiatischen Republiken um Einfluß. Es geht um strategische Macht, um Bodenschätze und um Religion. Es geht um Drogen, Waffen, Handelswege und Menschen.
Es braucht ein Bekenntnis
Wer in einem derart schwierigen nationalen und regionalen Umfeld Frieden schaffen will, braucht viel Zeit und vor allem einen starken politischen Willen, betont Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network. "Jetzt ist es natürlich unsäglich viel schwerer, alles nachzuholen, was am Anfang versäumt worden ist. Es gibt überhaupt keine Garantie, dass das funktioniert. Aber es gibt – glaube ich – eine Garantie, dass es militärisch nicht zu machen ist."
Dass die NATO den Krieg nicht gewinnen kann, ist inzwischen Konsens im Bündnis. Doch bis jetzt vermeiden es die Alliierten, sich öffentlich zu einem langen, schwierigen, politischen Aufbau-Prozess zu bekennen. "Was erreicht werden muss sind die Herzen und die Köpfe der Bevölkerung", wiederholt der Berliner Islamwissenschaftler Peter Heine einen Satz, den auch viele westliche Politiker gerne benutzen. Heine ergänzt, dass es dabei vor allem um die jungen Afghanen gehen müsse. "Denen muss man vermitteln, dass niemand daran interessiert ist, ihre Identitäten zu verändern oder darum, sie mit allen möglichen Mitteln in eine bestimmte ideologische, politische und kulturelle Richtung zu schieben."
Der afghanische Frieden muss von innen wachsen. Doch gleichzeitig muss sich das Ausland verpflichten, das geschundene Herzland Zentralasiens nicht für die eigenen Interessen zu mißbrauchen.
Autorin: Sandra Petersmann
Redaktion: Matthias von Hein