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Verschwindenlassen als Kriegsstrategie

Andreas Gorzewski21. Dezember 2013

Die UN-Untersuchungskommission zu Syrien wirft Regierung wie Rebellen vor, systematisch Gegner zu verschleppen. Im DW-Interview erklärt Kommissionsmitglied Vitit Muntarbhorn die Strategie hinter dem Verschwindenlassen.

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Vitit Muntarbhorn UN Menschenrechtsrat Genf (Foto: Jean-Marc Ferré/UN Geneva)
Bild: Jean-Marc Ferre/UN Geneva/cc-by-nc-nd-2.0

DW: Welchem Ziel dient die gezielte Verschleppung von Menschen?

Vitit Muntarbhorn: Es ist eine Kriegsstrategie und eine Waffe zur Einschüchterung. Wenn Menschen verschleppt werden, sind sie nicht nur ohne jeden Kontakt zur Außenwelt, sie werden oft auch gefoltert und schließlich getötet. Vor allem jetzt ist es Teil der Kriegsstrategie, den Gegner zu terrorisieren. Man versucht nicht nur die Gegner, sondern auch deren Familien einzuschüchtern. Wenn eine Person verschleppt wird, und die Angehörigen fragen nach ihm, dann werden sie eingeschüchtert. Das ist eine Waffe des Staates gegen die Opposition und deren Umfeld.

Welche Gruppen oder Staatsorgane sind für das Verschwindenlassen verantwortlich?

Die ersten Fälle, wenn man in unseren Bericht schaut, gehen auf die Sicherheitskräfte, die Armee und Angehörige der Luftwaffe zurück. Anderes Sicherheitspersonal und bewaffnete Kräfte kamen hinzu, ebenso wie die staatlichen Behörden, die das dulden. Auf der Nicht-Regierungsseite sind es verschiedene Gruppen, die Geiseln nehmen, was auf das gleiche wie Verschwindenlassen hinausläuft.

Hat sich das Muster der Verschleppungen im Laufe des Konflikts gewandelt?

Als es ab 2011 Demonstrationen gab, wurden Leute verschleppt. Sie wurden aus Demonstrationen heraus oder zuhause oder an Checkpoints festgenommen. Dann wurden sie weggebracht und irgendwo versteckt festgehalten ohne Kontakt zur Außenwelt. In der aktuellen Phase sind freie Demonstrationen durch den Krieg schwieriger geworden. Nun hat sich das Muster so gewandelt, dass Menschen mehr von zuhause abgeholt oder an Checkpoints verschleppt werden. So gehen nicht nur Regierungsstellen vor sondern auch Verbündete wie einige Milizen.

Lässt sich abschätzen, wie viele Menschen Opfer dieser Kriegstaktik sind?

Wir arbeiten auf der Grundlage von direkten Interviews mit Zeugen und Opfern. Seit 2011, als der Untersuchungsauftrag begann, haben wir insgesamt etwa 3000 Menschen interviewt. Die Zahl der Fälle, die wir untersucht haben, ist im Hunderter-Bereich. Wenn man auf die allgemeine Lage schaut, würden wir sagen, dass Tausende Menschen einschließlich ihrer Familien von diesem Phänomen betroffen sind.

Wie steht das Völkerrecht zum systematischen Verschwindenlassen?

Wir gehen davon aus, gerade weil es ein weit verbreitetes und systematisches Muster gegenüber der Zivilbevölkerung ist, dass es gleichbedeutend mit einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach internationalem Recht ist. Es gibt demnach eine Pflicht zur Rechenschaft auf internationaler Ebene. Diese Pflicht sollte es auch auf nationaler Ebene geben.

Wie gehen Angehörige von Verschleppten mit der Ungewissheit um?

Man darf das nicht nur als Handlung ansehen, die gegen eine Person ausgeführt wird. In der Regel werden Männer in diesem Krieg verschleppt, aber die Entführung richtet sich auch gegen die Angehörigen. Die Familie kann nicht erfahren, wo eine verschleppte Person ist. Die Familie wird außerdem bestraft, wenn sie Nachforschungen über den Verbleibt anstellt. Wir wissen von Fällen, bei denen auch Familien verschleppt wurden. Darüber hinaus gibt es ein Langzeit-Trauma, weil sie nicht wissen, was passiert ist. Sie bleiben in einem Zwischenstadium hängen. Die Wunden sind tief, sie belasten die Menschen enorm. Wenn man nicht weiß, was mit jemandem passiert ist, kann man mit seiner Angst und Trauer nicht fertig werden.

Welchen Sinn hat es, die Verschleppungen in Syrien in einem Bericht anzuprangen?

Zunächst halte ich es für sehr wichtig, diese Information zu nutzen, um ein weltweit Bewusstsein zu schaffen, um zu jeder Zeit solch Dinge zu verhindern, zu verbieten und um Rechenschaft einzufordern. Diese Offenlegung ist sehr wichtig. Zunächst treten wir dafür ein, dass die Kommandeure von Regierungsgruppen und Gegnern der Regierung ihren Untergeordneten, Soldaten, Kämpfern und anderen befehlen, diese Praxis zu stoppen. Sie müssen klar machen, dass dafür Rechenschaft eingefordert werden kann. Zweitens fordern wir, dass jeder Festgenommene Zugang zu seiner Familie erhält. Drittens treten wir dafür ein, dass die Festgenommenen registriert werden. Viertens fordern wir, dass jeder, der solche Taten begangen hat, zur Rechenschaft gezogen werden.

Der Menschenrechtsexperte Vitit Muntarbhorn ist Rechtsprofessor in Bangkok. Er erstellte für die Vereinten Nationen unter anderem Berichte zur Lage in Nordkorea und über Kinderhandel. 2012 wurde er eines von vier Mitgliedern der Untersuchungskommission zu Syrien beim UN-Menschenrechtsrat.