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Viktor Kossakowski: "Wir müssen mit dem Töten aufhören"

Marina Baranovska
23. Februar 2024

Er ist der einzige russische Regisseur bei der Berlinale: Viktor Kossakowski. Mit der DW sprach er über seinen Film "Architecton", über Alexej Nawalny und eine Menschheit, die auch im 21. Jahrhundert noch Kriege führt.

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Viktor Kossakowski im weißem Hemd und blauem Pullover über den Schultern sitzt vor einer rot-weiß gestreiften Wand
Viktor Kossakowski lebt seit 2002 nicht mehr in RusslandBild: DW

Viktor Kossakowski ist ein russischer Dokumentarfilmer, der sein Handwerk in Leningrad (heute St. Petersburg) erlernte. Er erhielt zahlreiche internationale Preise. Im Jahr 2002 hat er seine Heimat verlassen und lebt u.a. in Berlin. Bei der diesjährigen Berlinale lief sein Film "Architecton" im Hauptwettbewerb. Es ist eine bildgewaltige Reise ins Reich des Materials, aus dem menschliche Behausungen bestehen: Beton und dessen Vorgänger, Stein. Das Filmessay widmet sich der fundamentalen Frage, wie wir die Welt von morgen bewohnen wollen und rückt auch das Konzept wenig nachhaltigen modernen Bauens in den Fokus.

Die DW sprach mit Viktor Kossakowski über moderne Architektur und die Notwendigkeit, im Einklang mit der Natur zu leben, aber auch über den Tod von Alexej Nawalny, über Krieg und über individuelle Verantwortung.

DW: Einen Tag nach Beginn der Berlinale, am 16. Februar, haben wir vom Tod Alexej Nawalnys erfahren. Wie hat diese Nachricht auf Sie gewirkt?

Viktor Kossakowski: Im Kino gibt es eine Zeitlupen-Filmtechnik. Stellen Sie sich vor, eine Kugel wird abgefeuert, sie erreicht den Kopf eines Menschen - und er wird getötet. Die filmische Zeitlupe dehnt diesen Moment auf drei Jahre aus. Nawalny wurde schon vor drei Jahren getötet - in dem Moment, als er verhaftet wurde. Wir wussten, dass er umgebracht werden wird. Die Frage war nur, wann das geschieht. Es ist alles unsere Schuld: Drei Jahre lang haben wir so getan, als würde sich alles irgendwie schon regeln. Und jetzt versuchen wir, unsere Untätigkeit zu rechtfertigen.    

Ich habe Mitleid mit Julia Nawalnaja. Ich habe Mitleid mit Nawalnys Mutter. Mit seinen Kindern. Ich habe Mitleid mit den ukrainischen Kindern, die zwangsweise deportiert werden, die ihren Familien entrissen werden, die vielleicht einen anderen Namen bekommen... Ich denke die ganze Zeit an sie!  Was für eine Katastrophe! Und die Welt kann nichts dagegen tun. Irgendetwas stimmt nicht, wenn die ganze Welt im 21. Jahrhundert nicht in der Lage ist, einen Krieg mitten in Europa zu stoppen!  

Ihr neuer Film "Architecton" beginnt mit einem Prolog, in dem Sie Häuser in der Ukraine zeigen, die von russischen Raketen zerstört wurden. Dieses Filmmaterial hat nicht direkt etwas mit der Idee des Films zu tun. Warum war es für Sie wichtig, den Film mit diesen Aufnahmen zu beginnen?

Ich habe diesen Film anfangs als Komödie über moderne Architektur konzipiert. Aber als die Corona-Pandemie ausbrach, wurde mir klar, dass ich ernst sein muss. Ich drehte ein völlig leeres New York: kein einziger Mensch, kein einziges Auto, keine einzige Werbung. Ein völlig apokalyptisches Bild einer unvorstellbaren Zukunft. Und dann begann dieser Krieg - und mir wurde klar, dass ich weder die Comedy-Episode noch das Filmmaterial aus New York verwenden konnte.

Die Ruinen beweisen mehr als schriftliche Dokumente: Denn Russland könnte sagen, es sei nicht für Zerstörung verantwortlich. Hier war mal ein gewöhnliches Viertel, gewöhnliche Wohnhäuser, in denen die Menschen schliefen. Jetzt belegen diese kaputten Häuser ganz klar, von welcher Seite die Raketen kamen. Daher habe ich angefangen, Ruinen zu filmen.

Berlinale-Plakat des Filmes "Architecton"; Ein Mann schiebt einen Betonblock in ein Loch
Victor Kossakowskis Dokumentarfilm "Architecton" läuft im Hauptwettbewerb der 74. BerlinaleBild: Berlinale/Victor Kossakovsky

Es gab eine Bewegung in der Kunst - den "Ruinismus", auch Piranesi (Giovanni Batista Piranesi, italienischer Archäologe, Architekt und Kunstgrafiker des XVIII. Jahrhunderts, der die Ruinen antiker Zivilisationen malte, Anmerkung d. Red.) gehörte dazu. Als er seine Gemälde präsentierte, glaubte man, dass er sich diese Motive nur ausgedacht habe. Ich wollte wissen, ob das stimmt - und es stellte sich heraus, dass er nicht nur nichts erfunden hatte, sondern seine Bilder sogar fotografisch genau waren.

Wenn man sich seine Werke ansieht, versteht man, dass wir nicht die Einzigen auf der Welt sind, dass es eine frühere Zivilisation gab. Und die Art und Weise, wie sie damals gebaut haben, das können wir nicht  wiederholen. Wir sind nicht in der Lage, die Steine so zu bearbeiten, wie die Menschen damals es getan haben. Wir können nicht nur den Stein nicht anheben, wir können ihn auch nicht vom Felsen trennen.

Die Vorstellung, dass Bauten in der Antike von Sklaven errichtet wurde, ist falsch. Sklaven gibt es heute auf vielen Baustellen - in jedem Land, auch in Europa, auch hier in Deutschland. Es sind Menschen ohne Rechte, Menschen, die in den Kellern der Gebäude schlafen, die sie bauen. Das sind die Sklaven. In der Antike waren es Meister ihres Fachs!

Filmstill aus Architecton: Zwei Menschen gehen durch Ruinen
Filmszene aus "Architecton": Kossakowski kritisiert moderne, nicht nachhaltige Bauten Bild: Ma.ja.de. Filmproduktions GmbH/Point du Jour/Les Films du Balibari

Heutzutage errichten wir keine schönen Steinbauten mehr, weil wir sie für zu teuer halten. Aber in Wirklichkeit sind die Bauten teuer, die wir jetzt errichten, denn unsere Kinder werden sie wieder abreißen (weil sie weder lange haltbar noch nachhaltig sind, Anm. d. Red.). Wenn wir schöne Gebäude errichten würden, würden unsere Kinder sie schützen, und unsere Enkel und Urenkel würden sie auch schützen. Das käme uns billiger.

Wenn die Medien über Sie schreiben, werden Sie manchmal als russischer Regisseur bezeichnet, manchmal als ein in Russland geborener Regisseur. Wie sehen Sie sich selbst? 

Als Regisseur wurde ich in in Leningrad (heute St. Petersburg) ausgebildet, wo ich studiert habe. Ich habe mit Kameramännern gearbeitet, deren Namen in die Filmgeschichte eingegangen sind. Den Respekt vor dem Bild und das Verständnis, dass Dokumentarfilm eine Kunst ist, habe ich mir dort angeeignet. Und natürlich bin ich mit russischen Büchern aufgewachsen. Ich vermisse immer noch unseren tiefen Himmel, die lange Dämmerungen...Ich bin ein Russe. 

 Aber wenn Sie Russe und Teil der russischen Kultur sind, bedeutet das, dass Sie bereit sind, die kollektive Verantwortung für Russlands Handlungen zu übernehmen? 

Nein, ich bin nicht dazu bereit. Aber ich denke, dass auch ich Schuld trage, weil ich nicht genug getan habe. Meine Filme waren nicht überzeugend genug. Wenn andere Kulturschaffende die Weltanschauung der russischen Bürger geprägt haben, dann hatte ich wohl nicht genug Talent dazu.

Es gibt eine traurige Sache in der Natur: Es überlebt derjenige, der sich anpasst. Offensichtlich ist der Kompromiss Teil des Überlebenssystems. Ich kann nicht über diejenigen urteilen, die es geschafft haben, sich anzupassen. Dazu habe ich kein Recht. Ich will es nur nicht selbst tun, deshalb bin ich ausgewandert. Aber jeder geht seinen eigenen Weg. 

In Ihren letzten drei Filmen - in "Aquarell", "Gunda" und "Architekton" - sind praktisch keine Menschen im Bild. Aber nach diesen Filmen kann man gewisse Schlüsse über die Menschheit ziehen - und die sind ziemlich enttäuschend. Man hat das Gefühl, dass Sie eine eher pessimistische Sicht der menschlichen Natur haben. Ist das so?

Nein, nein, ganz im Gegenteil! Wenn wir so schrecklich wären, hätten wir uns schon längst gegenseitig aufgefressen. Aber wir haben uns darauf geeinigt, uns nicht gegenseitig zu fressen - zumindest in diesem Jahrhundert. Es ist an der Zeit, den nächsten Schritt zu tun - mit dem Töten aufzuhören. Wir sind nur ein Teil dieser Welt, sie kann auch ohne uns weiterleben. Wir sind nicht die Ersten und wir werden nicht die Letzten sein! Wir müssen bescheidener sein und vorsichtiger. Und vor allem sollten wir lernen, alles rund um uns herum zu respektieren. 

Das Gespräch führte Marina Baranovska.