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Vom Flüchtlingsheim ins "Elitegymnasium"

Dunja Dragojevic10. März 2016

Ein Privatgymnasium im Bonner Villenviertel hat Neuland betreten und eine Flüchtlingsklasse eingeführt. Die Schüler dieser Klasse sind meist ohne Eltern nach Deutschland gekommen. Dunja Dragojevic hat sie besucht.

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Schüler vor einer Tafel (Foto: DW/D. Dragojevic)
Bild: DW/D. Dragojevic-Kersten

Lässige Klamotten, coole Frisuren, modische Brillen – auf den ersten Blick könnte es eine ganz gewöhnliche Klasse an einer weiterführenden Schule sein. Mit 18 Schülern ist sie allerdings ein bisschen kleiner als üblich. Und dass viele Schüler der Klasse einen Migrationshintergrund haben, ist auch nicht zu übersehen. Das genauere Hinhören verrät weitere "Ungewöhnlichkeiten": "Hallo, kann ich dir helfen?" – "Guten Tag, ich suche einen Basketball." Deutschunterricht in einer deutschen Teenagerklasse gestaltet sich normalerweise etwas anders. Auf der Tafel in der Klasse steht: "Einkaufen und Verkaufen" – der Titel der heutigen Lektion an der traditionsreichen Otto-Kühne-Schule. Die Schüler müssen Dialoge zu diesem Thema erarbeiten und vorspielen.

Der "Verkäufer" ist Yazdan, ein 17 Jahre alter afghanischer Junge. Seine "Kunden" sind Fahimi, Nadeem, Mohammed, Sarah – alle sind sie Schüler der Internationalen Vorbereitungsklasse (IVK) auf dem privaten, staatlich anerkannten Gymnasium im Bonner Stadtteil Bad Godesberg, das als "Elitegymnasium" gilt. "Ich mag den Ausdruck nicht", sagt der Schulleiter Willi Mirgartz. Es sei einfach dieses Viertel hier, in dem viele wohlhabende und bildungsstarke Familien leben.

Ansicht der Schule (Foto: DW/D. Dragojevic)
Die Otto-Kühne-Schule in Bad Godesberg hat eine Klasse für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge eingerichtetBild: DW/D. Dragojevic-Kersten

Die Schule in diesem vornehmen Viertel besuchen die jungen Flüchtlinge der IVK schon seit November letzten Jahres, aber die Klasse besteht wegen einiger bürokratischer Hürdenläufe offiziell erst seit dem 1. Februar 2016. Ihre Schüler sind in der Regel zwischen 15 und 17 Jahren alt und kommen aus Syrien, Afghanistan, Iran und anderen Krisenländern. Eines haben sie fast alle gemeinsam: Sie bestritten die gefährliche Flucht nach Deutschland ohne Begleitung ihrer Eltern und wohnen in Bonner Flüchtlingsheimen.

Odyssee auf der "Balkanroute"

"Meine Schüler sehen ein bisschen älter aus als die gleichaltrigen deutschen Schüler", meint die Klassenlehrerin Ursula Coester und hat eine schlüssige Erklärung dafür: "Sie haben schon sehr viel erlebt." So wie der "Verkäufer" Yazdan. Er flüchtete mit seiner Familie aus Afghanistan nach Pakistan, erzählt er der DW-Reporterin. Alleine reiste er in den Iran weiter. Ein Jahr lang lebte er dort, arbeitete auf Baustellen und verdiente sich so das Geld für die Flucht nach Europa. Über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich kam er schließlich nach drei Monaten Odyssee in Deutschland an. Hatte er unterwegs Angst um sein Leben? "Ja, sehr viel Angst, in Griechenland", sagt er, "auf dem Meer." Und in den Wäldern von Mazedonien und Serbien.

Über die "Balkanroute" kam auch der 16-jährige Syrer Mohammed nach Deutschland. Er war ein guter Schüler in seiner Heimat, sagt er. In Deutschland ist er jetzt seit fünf Monaten und spricht schon sehr gut Deutsch. Davor lebte er zwei Jahre in einem Flüchtlingsheim in der Türkei.

Schüler über seinen Notizen (Foto: DW/D. Dragojevic)
Deutsch lernen hat erste PrioritätBild: DW/D. Dragojevic-Kersten

In der "Flüchtlingsklasse" sind momentan nur zwei Mädchen. "Es gibt viel weniger Mädchen, weil sie in der Regel nicht ohne Begleitung reisen", erklärt die Klassenlehrerin. Eins von ihnen ist die 15 Jahre alte Sarah. Ihr blieb der Marsch über die "Balkanroute" erspart. Sie ist mit ihrem Onkel und ihrem Bruder mit dem Flugzeug aus dem Iran zuerst nach Griechenland und fünf Jahre später nach Deutschland geflogen. Ihre Mutter sei immer noch im Iran: "In Griechenland war ich traurig. Hier nicht. Wenn meine Mutter kommt, werde ich richtig glücklich sein."

Der Weg zum Schulabschluss

Als großes Glück und große Chance sehen Yazdan, Mohammed und Sarah die Tatsache, dass sie an dieser Schule aufgenommen worden sind. Und sie betonen immer wieder, wie dankbar sie sind – ihren Lehrern, die sie "sehr wertschätzend" behandeln und ihnen Mut machen, sowie ihren deutschen Mitschülern, die ihnen im Schulalltag helfen. Und überhaupt den vielen Menschen in Deutschland, die nett zu ihnen sind. "Wir haben so viele Geschenke bekommen", sagt Sarah mit einem breiten Lächeln.

Yazdan, Mohammed und Sarah gehören zu den Leistungsstärkeren in der Klasse und werden, so ihre Klassenlehrerin, teilweise schon nach den Sommerferien in die Regelklassen integriert werden können. Bei vielen anderen wird das wahrscheinlich nicht so schnell gehen, aber das angepeilte Ziel ist, alle IVK-Schüler an den mittleren Schulabschluss in der Klasse zehn heranzuführen. Nicht alle werden danach weiter am Gymnasium bleiben können, aber mit diesem Abschluss können sie eine Lehre oder Ausbildung angehen. Schließlich hätten sie, sagt Coester, auch in ihren Heimatländern nicht alle das Abitur geschafft.

Ihre Vorbildung war für diese Schüler auch kein Auswahlkriterium für die Aufnahme an der Traditionsschule. Der Kontakt zur Schule kam über das Flüchtlingsheim, in dem sie wohnen oder über Familien, die sie zur Pflege aufgenommen haben. Kosten entstehen für sie nicht, da die Schule als staatlich anerkannte Institution aus öffentlichen Geldern und über einen Trägerverein finanziert wird.

Schülerin vor einer Tafel (Foto: DW/D. Dragojevic)
Auch Verhaltensregeln sind wichtigBild: DW/D. Dragojevic-Kersten

Mehr als ein Ort des Lernens

Alle Schüler der IVK gehen sehr gerne in ihre neue Schule, berichtet Ursula Coester. Von den Betreuern in den Flüchtlingsheimen weiß die Klassenlehrerin, dass die Jugendlichen eher vor den Ferienzeiten Angst haben - vor den bevorstehenden Osterferien und noch mehr vor den sechs langen schulfreien Sommerwochen. Denn für sie ist Schule viel mehr als ein Ort des Lernens. Hier treffen sie andere Jugendliche, machen Ausflüge, spielen Fußball, schließen Freundschaften – für sie ist der Schulalltag ein Stück Normalität, die sie lange nicht hatten. In der Schule haben sie außerdem auch ihre "Paten", deutsche Schülerinnen und Schüler, die mit ihnen nachmittags lernen, aber auch mal an Wochenenden Schlittschuh laufen oder joggen gehen.

"Sie fallen gar nicht groß auf", erzählen uns die Schüler auf dem Schulhof. "Und wenn, dann dadurch, dass sie extrem nett und freundlich sind." Auch Klassenlehrerin Coester weiß nichts über Spannungen oder besondere Probleme zu berichten. Außer dass einige ihrer Schüler körperlich vielleicht nicht so stabil seien. "Manche hatten unbehandelte Knochenbrüche, manche haben starke Kopfschmerzen. Manchmal spricht mich der eine oder andere an, dass er Schlafschwierigkeiten hat, Albträume." Dann werden die Therapeutinnen aus dem Umkreis der Schule zu Rate gezogen. Die Arbeit mit diesen Schülern sei eine Herausforderung, aber keinesfalls eine Überforderung, sagt die Lehrerin. "Es fühlt sich richtig und gut an."

Positive Resonanz in der Elternschaft

Schulleiter Willi Mirgartz ist stolz darauf, dass seine Schule das erste Bonner Privatgymnasium ist, das eine Internationale Vorbereitungsklasse aufgestellt hat. Und zwar nicht, weil sie das wie öffentliche Schulen musste, sondern weil sie es wollte. Dabei haben alle mitgezogen, betont er: Lehrer und Schulangestellte, die wochenlang ehrenamtlich gearbeitet haben, Eltern, die sich in ihrer Freizeit engagiert haben und der Schulträger, die Familie Kühne. "Auf einen ersten Elternbrief über die IVK, den ich rausgeschickt habe, bekam ich von vielen Eltern eine persönliche E-Mail, in der sie es unterstützten und gut fanden, dass die Schule sich auf diese Art und Weise engagiert." Keine besorgte oder gar böse Mail? "Nein, definitiv nicht."

Deutschland unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Otto-Kühne-Schule, Päda Willi Mirgartz Schulleiter
Schulleiter Willi MirgartzBild: DW/D. Dragojevic-Kersten

Er sei sehr zuversichtlich, sagt Mirgartz, dass die IVK-Schüler ihren Weg machen werden. Mohammed und Yazdan haben klare Ziele vor Augen. Mohammed will Augenarzt werden. Yazdan wollte als Kind Pilot werden. "Das ist immer noch mein Traum", sagt er. Aber jetzt könne er sich auch vorstellen, Journalist zu werden. Nach allem, was er auf seinem Weg in Deutschland gesehen habe. Zuerst will er aber richtig gut Deutsch lernen. Und mit seinen deutschen Freunden Cecilia und Philipp den Bonner Marathon laufen.