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Vom Kartellparadies zum Verbraucherschutz

Rolf Wenkel
30. Juni 2017

Deutschland war einmal mit 3500 offiziellen Absprachen das Kartellparadies schlechthin. Erst seit 60 Jahren ist das anders, wacht eine Behörde über den Wettbewerb, die mit dem Internet immer neue Aufgaben bekommt.

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80 Jahre Einkaufswagen
Bild: picture-alliance/dpa/CTK/P. Luděk

Am 3. Juli wird das so genannte Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen 60 Jahre alt. Rund 350 Mitarbeiter des Bundeskartellamtes sollen darüber wachen, dass im freien Wettbewerb alles mit rechten Dingen zugeht - und über mangelnde Arbeit kann sich die Behörde, die 1999 von Berlin nach Bonn umgezogen ist, wahrlich nicht beklagen. So hat sie erst am Dienstag Geldbußen gegen zwei Hersteller von Industriebatterien in Höhe von rund 28 Millionen Euro wegen Absprachen über die Erhebung eines so genannten "Metallteuerungszuschlages" verhängt.

"Dieser Zuschlag ist an sich ein zulässiges Instrument, um Änderungen der Rohstoffpreise auf den Kunden abzuwälzen", erklärt der Präsident des Bundeskartellamtes, Andreas Mundt. Lieferant und Abnehmer seien frei, einen derartigen Automatismus zu vereinbaren. Eindeutig unzulässig ist es allerdings, wenn sich Produzenten untereinander abstimmen, einen solchen Zuschlag branchenweit als Standard einzuführen und damit den Wettbewerb auszuschalten.

Am Tag zuvor mussten die Bonner Wettbewerbshüter zähneknirschend eingestehen, dass rund 110 Millionen Euro Bußgelder gegen drei Fleischfabrikanten wohl nicht mehr einzutreiben sind. Die Firmen hatten die so genannte "Wurstlücke" ausgenutzt: Umstrukturierungen im Konzern führten dazu, dass diese Firmen rechtlich nicht mehr existierten und Bußgelder nicht mehr vollstreckbar waren. Rund 238 Millionen Euro sind der Behörde durch diese Wurstlücken entgangen - doch damit ist jetzt Schluss, künftig müssen Konzernmütter auch für Verfehlungen ihrer Töchter mit einstehen.

Seltsamer Widerspruch

Der freie Wettbewerb beruht in einer Marktwirtschaft eigentlich auf einem seltsamen Widerspruch. Einerseits basiert die Marktwirtschaft auf dem Prinzip der Gewinnerzielung, das Erwirtschaften von Gewinnen ist nicht nur geduldet, sondern legitimes Handlungsmotiv der Unternehmer. Andererseits soll gerade der Wettbewerb zwischen den Unternehmen dafür sorgen, dass keiner überhöhte Preise nimmt und niemand über längere Zeit unangemessen hohe Gewinne einstreicht. Was also liegt näher, als diesen lästigen Wettbewerb auszuschalten?

Einfachstes Beispiel ist das Preiskartell, in dem Anbieter sich zusammensetzen und vereinbaren, sich bei Preisen keine Konkurrenz zu machen. Weil aber jedes Kartellmitglied wegen fehlender Konkurrenz höhere Preise nehmen kann, ist die Versuchung groß, mehr zu produzieren, um die Gewinne zu steigern. Ein steigendes Angebot bei gleichbleibender Nachfrage führt jedoch irgendwann - trotz des Preiskartells - zu sinkenden Preisen. Also muss das Kartell auch Absprachen über die produzierten Mengen treffen - das Quotenkartell ist geboren. 

Bekanntestes Beispiel für die beiden Kartellarten ist die Organisation Erdölexportierender Staaten (OPEC). Und sie ist auch das beste Beispiel dafür, dass sich ein Kartell als wirkungslos erweisen kann, wenn man sich nicht über die Quoten, sprich Fördermengen einigen kann.

Lange Tradition

In Deutschland hatten Kartelle eine lange Tradition. Im Jahr 1905 zählte das damalige Reichsamt des Inneren 385 Kartelle, die über 12.000 Betriebe umfassten und in den Grundstoffindustrien 60 bis 90 Prozent der Produktion kontrollierten – von der Kohle über Stahl, Zement, Zucker, Teer, Kali, Papier und vieles andere mehr. 

Die Spielarten waren zahlreich: Es gab nicht nur Preis- und Quotenkartelle, sondern auch Absprachen über Absatzgebiete, Rabatte und Exporte. Nach dem ersten Weltkrieg schwoll die Zahl der wettbewerbsbeschränkenden Absprachen sogar auf über 3500 an; für die Unternehmer war Deutschland das Kartellparadies schlechthin. 

Absprachen funktionieren natürlich am besten, je weniger Unternehmen daran beteiligt sind. Gibt es auf dem Markt für ein Produkt nur fünf oder sechs Hersteller, ist das schon ganz schön. Besser wäre es, wenn Firmen fusionieren oder der Große die Kleinen kauft, bis am Ende nur noch drei, zwei oder ein einziger Anbieter übrigleiben - dann hat es auch mit dem lästigen Wettbewerb ein Ende. Erst 1957 gelang es in Deutschland, nach jahrelangem Ringen und gegen den erbitterten Widerstand der Industrie, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, im Volksmund Kartellgesetz genannt, durchzusetzen; die Fusionskontrolle kam sogar erst 1973 hinzu.

Neue Aufgaben

Bis heute hat sich die Arbeit des Bundeskartellamtes nicht wesentlich geändert - es sind nur neue Bereiche dazu gekommen, die den Verbraucher besser schützen sollen. So erhebt die Behörde zum Beispiel die Benzinpreise aller Anbieter in Echtzeit und leitet sie an Verbraucher-Informationsdienste und Internetportale weiter, sie nimmt Bier-, Zucker- und Kaffeepreise unter die Lupe, überprüft den Lebensmittelhandel, Milchpreise und die Fernwärmeversorgung und kämpft – siehe oben -  gegen illegale Wurstkartelle.

Eins ihrer zentralen Themen heute ist der Kampf gegen Abzocke und Datenklau im Internet. Dazu bekamen die Bonner Wettbewerbshüter vor wenigen Wochen mit einer Gesetzesnovelle mehr Rechte. "Gerade in der Internetwirtschaft gibt es Fälle, in denen Unternehmen durch eine einzige rechtswidrige Maßnahme Millionen Verbrauchern auf einmal schaden können", sagt Behördenchef Andreas Mundt. Er hat für solche Fälle eine neue Abteilung für Verbraucherschutz eingerichtet.

Durchgegriffen hat das deutsche Amt bereits gegen mehrere Hotelbuchungsportale und die Kaufplattform Amazon-Marketplace: Sie untersagten den Portalen Bestpreis-Klauseln, nach denen Hoteliers und Händler nirgendwo günstigere Angebote machen durften als auf dem Portal des Vertragspartners. Eine neue wirksame Waffe gegen Kartellsünder bekommt das Amt demnächst im öffentlichen Beschaffungswesen. Ab Januar 2020 sollen Wettbewerbssünder in ein Register eingetragen und über mehrere Jahre von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden.