Vom Land in die Megacity
25. Oktober 201120 Millionen Menschen leben im Großraum Mexiko-Stadt - genauso viele wie in Australien, aber auf einer eintausend mal kleineren Fläche und unter denkbar ungünstigen äußeren Bedingungen: Die Stadt ist umgeben von Vulkanen und Gebirgszügen und wurde auf dem Grund eines trockengelegten Sees erbaut, in dessen sandigem Untergrund die Gebäude inzwischen teilweise bis zu sieben Meter tief versinken. Und die Stadt wächst unaufhörlich weiter: Auf der Flucht vor der Armut auf dem Land und auf der Suche nach Arbeit lassen sich jährlich rund eine halbe Million Menschen in der Megametropole nieder. Mexiko-Stadt frisst sein Umland auf und zerstört so wertvolle Agrar- und Waldflächen.
Versorgung mit Trinkwasser wird zum Problem
"Drei große Herausforderungen muss Mexiko-Stadt bewältigen: Wasser, Luft und Müll", sagt Ingrid Spiller, die das Büro der Heinrich Böll Stiftung in der mexikanischen Hauptstadt leitet. Um an das Grundwasser zu gelangen, muss inzwischen über acht Meter tief gebohrt werden. Ein großer Teil des Wassers kommt von weit außerhalb der Stadt. Die Rohrleitungen sind bis zu den Hausanschlüssen größtenteils marode, "so dass enorme Mengen an Frischwasser verloren gehen", sagt Ingrid Spiller und fügt hinzu: "Die Wasserqualität ist in vielen Stadtteilen nicht zum Trinken geeignet, so dass viele Menschen Wasser in Kanistern kaufen müssen. Die Preise werden von Privatunternehmen diktiert und sind für ärmere Bevölkerungsschichten nicht erschwinglich." Wer also doch auf Leitungswasser zurückgreift, riskiert täglich krank zu werden. Trotz dieser Situation gebe es "keine Kultur des sparsamen Umgangs mit Wasser", beklagt die Vertreterin der Böll-Stiftung.
Luft zum Atmen
Auf über 2.000 Metern Höhe ist der Sauerstoffgehalt der Luft deutlich geringer als auf Meeresniveau. Daher macht sich die Luftverschmutzung durch Auto- und Industrieabgase umso stärker bemerkbar. "Die Qualität der Luft hat sich in den letzten drei Jahrzehnten deutlich verbessert, aber sie ist trotzdem noch schlecht", hat Ingrid Spiller beobachtet. Die Luftqualität von Mexiko-Stadt gilt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation als eine der schlechtesten der Welt. Hauptverursacher ist der Verkehr. Rund eine Million Berufspendler strömen täglich in die Stadt.
Die ungebremste Ausdehnung Mexikos hat die Stadt seit den 1980er Jahren an den Rand des Verkehrsinfarktes getrieben. Um den Dauerstau auf den drei bis sechsspurigen Einfallstraßen aufzulösen, verhängt die Stadtverwaltung Fahrverbote, die jeden Tag für unterschiedliche Endziffern der Nummernschilder gelten. Ohne Erfolg: Die billigen Verbraucherkredite, mit denen der Konsum in den neunziger Jahren auf Pump angekurbelt werden sollte, machten den Kauf eines Zweitwagens bis hinein in die untere Mittelschicht möglich, so dass der Fuhrpark der Millionenmetropole rasant zugenommen hat. "Und seit das Freihandelsabkommen mit den USA in Kraft ist, werden die Straßen hier von billig exportierten Gebrauchtwagen überschwemmt, das sind häufig wahre Dreckschleudern", fügt Spiller hinzu.
Nahverkehr als Schlüssel für die Entwicklung
Dabei sei der öffentliche Nahverkehr "im Grunde sehr gut ausgebaut und sicher. Und die Stadtverwaltung tut viel um das Angebot noch weiter zu verbessern", findet Ingrid Spiller und führt als Beispiel das dichte Netz aus U-Bahnen, Bussen und den sogenannten Metro-Bussen an. Ein Projekt, das auch für den Stuttgarter Stadtplaner Nicolas Leyva Vorbildcharakter hat: "Das Bus Rapid Transit"-Netz BRT verfügt über eine eigene Busspur im Straßenverkehr und die Busse fahren im Minutentakt. Dieses System ist viel billiger als eine U-Bahn und bewegt pro Stunde mehr Menschen als eine Metro. In Lateinamerika gibt es ähnliche erfolgreiche Modelle bereits in Bogotá und in Curitiba in Brasilien." In Mexiko konnten dank BRT über 370 veraltete Busse aus dem Verkehr gezogen und der jährliche CO2-Ausstoß um 36.000 Tonnen verringert werden.
Wiederbelebung der Innenstadt
Doch auch das verbesserte öffentliche Transportwesen kann eines der Hauptverkehrsprobleme nicht lösen: "Die Wege von der Wohnung zur Arbeit nehmen extrem viel Zeit in Anspruch", schildert der Stuttgarter Stadtplaner Nicolás Leyva. "Vor allem für die armen Bevölkerungsschichten sind kurze Wege zwischen Wohnung und Arbeit innerhalb der Stadt dringend erforderlich, um zu erschwinglichen Preisen zur Arbeit zu gelangen." Leyva arbeitet in dem Projekt "Integration", eine von der EU geförderte Kooperation der Stadt Stuttgart mit verschiedenen Metropolen Lateinamerikas zur gezielten Entwicklung der Innenstädte. Dabei geht es um die Sanierung und Umwidmung von stillgelegten Industrieanlagen oder Firmengebäuden. In Stuttgart sind so 2011 über 500 Hektar an ungenutzten Flächen identifiziert worden, auf denen neue Stadtquartiere entstehen sollen. "Auch in Städten wie Mexiko oder Bogotá gibt es ein großes Potential an ungenutzten Flächen und leerstehenden Fabriken, deren Erschließung, z. B. durch sozialen Wohnungsbau die Abwanderung an die Stadtränder verhindern könnte", sagt Leyva.
Zuwanderung nimmt weiter zu
Seit die linksgerichtete PRD vor zehn Jahren in Mexiko-Stadt an die Macht kam, sei das öffentliche Leben wieder sicherer geworden, so Ingrid Spiller. "Die Hauptstadt und ihre Umgebung gelten heute als einer der sichersten Orte des Landes. Die Innenstadt ist saniert worden, auf den Plätzen finden wieder Veranstaltungen statt, die Menschen haben ihre Stadt zurückerobert." Dadurch hat sich auch die Zuwanderung vom Land wieder erhöht. Am Stadtrand sprießen neue Baugebiete, "aber die Stadtplanung kann mit dem Bevölkerungswachstum kaum Schritt halten." Bis vor einigen Jahren beschränkte sie sich denn auch vor allem darauf, illegal und unkontrolliert gewachsene Slums nachträglich als Stadtteil anzuerkennen und mit der nötigen Infrastruktur auszustatten, wobei der Bau von Straßen und Kanalisation entweder auf Druck der Bürger erfolgt oder als Wahlkampfgeschenk inszeniert wurde.
Die Stadt und der Müll
Erst seit kurzem habe man in Mexiko begonnen, Mülltrennung auch für private Haushalte vorzuschreiben und die alten Mülldeponien schrittweise durch moderne Recycling-Anlagen zu ersetzen. Doch so sorglos und verschwenderisch wie mit dem Wasser umgegangen wird, halten es die Mexikaner auch mit dem Müll, meint Ingrid Spiller. "Es herrscht keine Müllvermeidungskultur." Zwanzigtausend Tonnen Abfall landen täglich auf den Deponien und seit einiger Zeit auch in den Wiederverwertungsfabriken. Das industrielle Recycling droht jedoch tausenden Menschen am untersten Ende der sozialen Hierarchie die Lebensgrundlage zu entziehen: noch immer leben mehrere zehntausend Menschen direkt auf den Müllkippen und suchen dort nach wieder verwertbarem Abfall.
Luft, Wasser und Müll – die Stadtverwaltung tut viel, um diesen drei großen Herausforderungen zu begegnen und die 20 Millionenmetropole zu einem lebenswerten Ort zu machen. "Wenn es so weitergeht, dann wird man die Stadt in zehn Jahren vielleicht kaum noch erkennen", gibt sich Ingrid Spiller zuversichtlich. Doch sie gibt auch zu bedenken, "dass schon die Entstehung einer so ausufernden Stadt ein Fehler ist. Für die Entwicklung eines Landes ist es besser, wenn mehrere große Zentren gleichberechtigt und nicht in Konkurrenz zu einander entstehen." Und Nicolas Leyva, der das räumliche Wachstum von Molochs wie Mexiko-Stadt bremsen will fügt hinzu: "Ich glaube nicht, dass Mexiko noch lange nach außen wachsen wird, denn so eine Stadt ist einfach nicht nachhaltig. Aber die Situation in Mexiko ist so komplex, dass man nicht zu schnellen Lösungen kommen kann."
Autorin: Mirjam Gehrke
Redaktion: Ulrike Mast-Kirschning