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Politik

Vor 25 Jahren: Ein Tribunal für Ruanda

Antonio Cascais | David Ehl
8. November 2019

Während des Genozids griff die Weltgemeinschaft nicht ein, anschließend setzte sie einen internationalen Gerichtshof ein. Konnte dieses Gericht den Genozid juristisch aufarbeiten? Die Meinungen sind geteilt.

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Ruanda Internationaler Gerichtshof für den Völkermord
Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) in Arusha, TansaniaBild: picture-alliance/dpa/L. Lee Beck

Ruanda 1994: Extremistische Medien rufen zu Mord auf, radikalisierte Hutu schlachten erbarmungslos Angehörige der Tutsi-Minderheit und moderate Hutu ab, in den Flüssen treiben Leichen. Innerhalb von nur 100 Tagen werden nach UN-Schätzungen zwischen 800.000 und einer Million Menschen systematisch verfolgt und getötet. Der Rest der Welt schaut tatenlos zu.

Nach diesem Verbrechen, einem der schlimmsten der Menschheitsgeschichte, will die internationale Gemeinschaft ein Zeichen setzen: Sie will endlich handeln und beweisen, dass internationale Strafjustiz keine Utopie ist, sondern möglich.

Weitere gut hundert Tage später, am 8. November 1994, beschließt der UN-Sicherheitsrat einen Ad-hoc-Gerichtshof für die Aufarbeitung der Taten einzusetzen. Bereits Anfang 1995 nimmt der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) in der nordtansanischen Stadt Arusha seine Arbeit auf. Während viele der Täter sich sogenannten Gacacas, traditionellen Dorfgerichten, stellen müssen, sollen sich in Arusha die Drahtzieher verantworten. Es ist ein Experiment in internationaler Gerechtigkeit.

61 Schuldsprüche, 14 Freisprüche

Nach 21 Jahren hat der ICTR seine Arbeit zum Jahresbeginn 2016 eingestellt. Hassan Bubacar Jallow, bis zuletzt Generalstaatsanwalt beim ICTR, zog damals eine positive Bilanz: "Wir haben außerordentlich viele Fälle bearbeitet", sagte er der DW. Dem Ruanda-Tribunal sei es gelungen, Militärchefs, Lokalpolitiker, Journalisten und auch Verwaltungschefs, die am Völkermord beteiligt gewesen seien, vor Gericht zu stellen. Zudem habe das ICTR einen Großteil der Gesetzgebung verfasst, die heute anderen Gerichten weltweit als Vorlage dient: "Diese Gerichte können nun den so wichtigen Kampf gegen die Straflosigkeit auf unserer Welt fortsetzen."

Ruanda Beisetzung Opfer Völkermord von 1994
Auch 25 Jahre nach dem Genozid bleibt die Trauer um die ermordeten AngehörigenBild: Getty Images/AFP/Y. Chiba

1998 verurteilte das Ruanda-Tribunal als erstes internationales Strafgericht einen Angeklagten wegen Völkermords. Rund vier Fünftel der mutmaßlich Hauptverantwortlichen für den Genozid 1994 konnten in den Jahren danach festgenommen und vor Gericht gestellt werden. Gegen 93 Personen erhob der ICTR Anklage. 61 wurden schuldig-, 14 freigesprochen. Die meisten Beobachter sind sich einig: Im Großen und Ganzen habe der ICTR die ihm übertragenen Aufgaben erfüllt.

Géraldine Mattioli-Zeltner von Human Rights Watch bestätigte, dass der ICTR einen großen Beitrag zum Aufbau einer Internationalen Strafverfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit geleistet habe. Der Strafgerichtshof für Ruanda sei ein Meilenstein auf dem Weg zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag gewesen. Neun Angeklagte konnten jedoch nicht nach Arusha überführt werden. Aber diese Fälle würden keineswegs vergessen, sondern von einer Auffang-Institution unter der Ägide der UNO weiterverfolgt, betont Generalstaatsanwalt Jallow.

Keine Strafverfolgung von Tutsi-Rebellen

Neben Anerkennung für die geleistete Arbeit wurde der ICTR aber auch immer wieder kritisiert: Problematisch sei vor allem, dass in den fast 21 Jahren die Rolle von ehemaligen Tutsi-Rebellen, die heute Führungspositionen in Ruanda besetzen, ungeklärt geblieben sei. Der ICTR habe auch das Mandat gehabt, die Straftaten der Tutsis zu verfolgen, sagte Mattioli-Zeltner 2016 im DW-Interview: "Doch es wurde keine einzige Straftat der RPF untersucht. Wir halten es für sehr problematisch, dass diese andere Seite des Genozids von dem Gericht nicht aufgearbeitet wurde." Die Tutsi-Organisation RPF (Rwandan Patriotic Front) des heutigen ruandischen Präsidenten Paul Kagame hatte 1994 dem Genozid ein Ende bereitet.

Ein weiterer Kritikpunkt am ICTR: Die strafrechtliche Aufarbeitung der Ereignisse von 1994 habe sich als äußerst kostspielig erwiesen. An die zwei Milliarden US-Dollar soll das Ruanda-Tribunal insgesamt verschlungen haben. In der Vergangenheit wurde der Gerichtshof, an dem zeitweise mehr als 1200 Menschen beschäftigt waren, wiederholt wegen Ineffizienz, fehlender Professionalität und Korruption kritisiert.

Wie geht es weiter?

Klar ist: Die Gräueltaten sind auch nach der Schließung des ICTR noch immer nicht vollständig aufgearbeitet. An Gerichten in Ruanda dauern die - vorwiegend gegen Zivilisten laufenden - Prozesse noch an. Und auch die vom ICTR begonnene Arbeit wird fortgeführt: in einer gemeinsamen Nachfolgeorganisation mit dem früheren Jugoslawien-Strafgerichtshof unter dem Dach der Vereinten Nationen. Auch dieser "Mechanismus" genannte Gerichtshof will einen Großteil seiner Arbeit bis Ende 2020 abschließen. Die Suche nach acht untergetauchten Personen, die vom ICTR wegen mutmaßlicher Beteiligung am Genozid in Ruanda angeklagt wurden, soll auch danach weitergehen.

Ruanda 25. Jahrestag Völkermord | Zeremonie in Kigali
Präsident Paul Kagame (2.v.l.) mit seiner Frau Jeannette und den Chefs von Afrikanischer und Europäischer Union am Mahnmal für den Völkermord in KigaliBild: Getty Images/AFP/Y. Chiba

Dafür sind die Juristen jedoch auf die Mitarbeit der Staaten angewiesen, in denen sich die Gesuchten aufhalten. Im Juli rügte der Chef-Ermittler des Mechanismus, Serge Brammertz, öffentlich die südafrikanische Justiz, weil sie eine Festnahme verschleppe. Zuvor hatte es Anschuldigungen gegeben, Kenia schütze den vom ICTR angeklagten ruandischen Geschäftsmann Félicien Kabuga, mutmaßlich einer der wichtigsten Geldgeber für den Genozid.

Menschenrechtsaktivistin Mattioli-Zeltner appellierte nach der Schließung des ICTR an die Staatengemeinschaft, die verbliebenen Täter und Hintermänner des Genozids in Ruanda zu verfolgen. "Nach dem Genozid 1994 sind viele der Straftäter in andere Länder geflohen. Unserer Meinung nach ist es sehr wichtig, dass diese Länder weiterhin wachsam bleiben. Und wenn der Verdacht aufkommt, dass jemand in den Völkermord involviert ist, dann können auch Drittstaaten diese Fälle untersuchen und die verdächtigen Personen vor Gericht stellen."

Einen Präzedenzfall hat vor knapp vier Jahren ein deutsches Gericht abgeschlossen: Genozid zählt zu den Tatbeständen, die in Deutschland nach dem Weltrechtsprinzip verhandelt werden. Das besagt, dass deutsche Gerichte zuständig für die Wahrung des Völkerrechts sein können, selbst wenn die Taten außerhalb Deutschlands und ohne die Beteiligung Deutscher stattgefunden haben. So verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main Ende 2015 einen früheren ruandischen Bürgermeister zu lebenslanger Haft. Der Angeklagte Onesphore Ruwabukombe habe im April 1994 "wissentlich und willentlich" ein Massaker auf einem Kirchengelände "vorbereitet, organisiert, befehligt und ausgeführt", befand das Gericht. Auch nach der Schließung des ICTR gibt es also noch Wege, die verbliebenen Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Mitarbeit: Frejus Quenum

Eine frühere Version dieses Artikels wurde erstmals am 04.01.2016 veröffentlicht unter dem Titel: "Mission erfüllt? Das Ruanda-Tribunal schließt"