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Vor 25 Jahren: Künstler erinnern sich

Heike Mund9. November 2014

Vom 9. November 1989 sind viele Fernseh-Bilder geblieben - Bilder, die sich in das Gedächnis der Nation eingebrannt haben. Zwei Musiker und ein Künstler erzählen, wie sie den Tag erlebt haben.

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Berliner Mauer-Graffiti (Foto: Alexi Tauzin)
Bild: Alexi Tauzin/Fotolia.com

Der 9. November 1989 ist ein ganz normaler Donnerstag. Eiseskälte macht sich am Abend breit. Man kann den Atem als Nebelhauch vor den Augen sehen. Immer mehr Menschen in Ost-Berlin strömen in eine Richtung – magnetisch angezogen von einer ungewöhnlichen Vibration in der Grenzstadt.

Der Dresdner Künstler Via Lewandowsky ist vor ein paar Monaten in den Westen geflüchtet und versucht, sein Leben und Atelier im Westteil der Stadt einzurichten. Von der Umbruchstimmung in Berlin bekommt er nichts mit. "Ich hatte gerade eine neue Wohnung mit meiner Familie bezogen in Kreuzberg in der hintersten Ecke. Da gab es auch keinen Grenzübergang in der Nähe. Man hörte nachts nur die Hunde bellen von der Grenzanlage." Für ihn ist das ein Tag wie jeder andere. "Ich hatte unheimlich viel zu tun, noch kein Telefon, Internet gab es sowieso noch nicht. Und ich hatte keinen Fernseher." Am Anfang nimmt er das nicht weiter ernst, was an Informationen aus dem Ostteil der Stadt zu hören ist. "Ich hatte mitnichten daran gedacht, dass sich das jemals ändern würde mit der Grenze. Ich war schließlich nach West-Berlin gekommen, um dieses romantische Leben des Exils im anderen Teil Deutschlands zu leben."

Via Lewandowsky (Foto: dpa)
Wenige Monate nach Via Lewandowskys Ankunft im Westen fiel die MauerBild: picture-alliance/dpa/Klaus-Dietmar Gabbert

Exodus der DDR-Bürger

Auf Ost-Berliner Seite kommen immer mehr Menschen zur Grenze. Alle stehen dicht an dicht. Euphorie und Unruhe machen sich breit. Im Kilometer entfernten Leipzig ist zu diesem Zeitpunkt alles noch ruhig. Musikstudent Sebastian Krumbiegel (23), Mitglied im weltberühmten Leipziger Thomaner-Chor und später Mitglied der Band "Die Prinzen", ist auf dem Weg zu einer Kabarettvorstellung in der Leipziger Innenstadt. In seinem Trabant hört er im Autoradio kurz nach 19 Uhr die Nachricht der verunglückten Pressekonferenz von SED-Funktionär Günter Schabowski. Er glaubt seinen Ohren nicht zu trauen. "Niemand hat erwartet, dass das wirklich passieren würde, dass die Mauer fällt. Wir haben alle damit gerechnet, dass Veränderungen im Land stattfinden, was sich in den letzten Wochen gerade bei uns in Leipzig abgezeichnet hatte, als die Montagsdemonstrationen immer voller wurden."

Sebastian Krumbiegel (Foto: dpa)
Sebastian Krumbiegel war auf dem Weg ins Kabarett, als die Mauer fielBild: picture-alliance/dpa/Britta Pedersen

Krumbiegel fährt ohne Umwege in den Club, um die Nachricht weiter zu tragen. "Ich bin sofort zum Stammtisch gegangen, wo die Schauspieler, Kabarettisten und die Kollegen saßen und habe gesagt: Freunde, wisst ihr überhaupt, was da in Berlin gerade abgeht?" Innerhalb von wenigen Stunden ist die Leipziger Künstlerszene und bald die ganze Stadt in Aufruhr, erinnert sich der Musiker. "Diese Nachricht hat sich rasend schnell verbreitet. Natürlich mehr über die Westsender, die wir damals immer heimlich gehört haben: Deutschlandfunk und Bayern 3 und ein bisschen NDR haben wir in Leipzig reingekriegt."

Grenzöffnung ohne Befehl

Ulla Meinecke (Foto: imago)
Ulla Meinecke fuhr sofort zur Bornholmer StraßeBild: imago/Sven Simon

Ulla Meinecke, Bandleaderin und eine der profiliertesten Songtexterinnen Deutschlands, sitzt an diesem Abend in West-Berlin vor dem Fernseher, als die Nachricht von der sofortigen Öffnung der DDR-Grenzen verkündet wird. "Ich saß auf dem Sofa und nähte einen Reißverschluss in eine Jeans ein. Und sah dann diesen Schabowski - die Szene, die ja nun inzwischen wirklich jeder kennt - und da bin ich sofort hochgeschossen, habe meinen damaligen Freund angerufen und gesagt: 'Mach mal den Computer aus. Komm hol uns ab.' Und dann sind wir zufälligerweise zur Bornholmer Straße gefahren. Das war der einzige Grenzübergang, den ich kannte."

Dort bleiben sie mit ein paar West-Berlinern in gebührendem Abstand vor den DDR-Grenzanlagen stehen. Die Schlagbäume sind noch zu. Niemand ist zu sehen, außer den hochgradig nervösen Grenzbeamten. "Es war eine unheimlich Spannung in der Atmosphäre. Und irgendwann kamen die ersten angaloppiert", erinnert sich die Musikerin. "Auf uns liefen zwei junge Männer zu, die kamen direkt von der Schicht. Die arbeiteten in einer Fabrik, die große Metallbürsten zum Abbürsten von Schiffsrümpfen herstellte. Das haben wir alles im Laufe der Nacht erfahren."

Keine Zeit zu schlafen

Kurz nach Mitternacht drängen hier am Grenzübergang Bornholmer Straße Tausende in Richtung Westen. Kinderwagen werden über die Köpfe der Menschen hinweg gereicht. Trabis, eine der wenigen Auto-Marken, die der Normalbürger in der DDR überhaupt kaufen und bezahlen konnte - schieben sich inzwischen in Dreierreihen über die offene Grenze, umspült von glücklich lachenden Menschen, die jubelnd nach West-Berlin rüberlaufen. Ulla Meinecke und ihr Freund nehmen die beiden Neuankömmlinge kurzerhand mit in die Stadt und zeigen ihnen den Kudamm, den berühmten Konsumtempel KaDeWe, die Berliner Kneipen. "Wir haben uns die ganze Nacht mit ihnen um die Ohren geschlagen", erzählt die Musikerin.

Ein unaufhörlicher Strom von DDR-Bürgern bewegt sich durch die Nacht. Die Grenzer haben längst aufgegeben und sich in die Grenzbaracken zurückgezogen. "Ich denke auch, dass Leute, die unter Lebensgefahr noch Wochen vorher geflohen sind, die müssen auch gedacht haben: in was für einem Drogen-Film bin ich denn jetzt gelandet", fasst Meinecke ihre Eindrücke von damals zusammen. Sie ahnt, dass sich an dieser Nacht vom 9. auf den 10. November ein historischer Umbruch für ganz Deutschland anbahnt. "Am frühen Morgen waren wir noch am Brandenburger Tor und mir war klar: das wars mit der DDR. Ich dachte nur, das kann man nicht mehr rückgängig machen." In den Wochen danach kommen sie und ihre Musikerkollegen kaum zum Arbeiten. "Dauernd waren wir in der Stadt unterwegs, um irgendwo zu zuschauen, wie die Bagger Mauerstücke rausreißen. Aber ich habe mich so gefreut, dass dieses kranke DDR-System mit der Mauer und dem Todesstreifen endlich vorbei war."

Wasserwerfer versuchen Menschen auf der Mauer zu vertreiben (Foto: dpa)
Auch Wasserwerfer konnten sie nicht vertreibenBild: picture-alliance/dpa