Vor 60 Jahren uraufgeführt: Alfred Hitchcocks "Psycho"
15. Juni 2020Die Gefahr von Spoilern besteht wohl nicht mehr. Heute weiß jeder, dass die berühmte Duschszene in "Psycho" für Hauptdarstellerin Janet Leigh übel ausgeht. Und warum Norman Bates alias Anthony Perkins mordet. Und was hinter der ausgestopften Frauenfigur in Bates Motel steckt. "Psycho" von Alfred Hitchcock ist sicher einer der meistzitierten Filme der Kinogeschichte. Wer ihn noch nie gesehen hat, der weiß vermutlich trotzdem Bescheid. "Psycho" hat seine Spuren hinterlassen - im kulturellen Gedächtnis der Menschheit.
"Psycho" ist weit mehr als nur ein Horrorfilm
"'Psycho' ist der Film, für den Hitchcock vor allem berühmt ist", schreibt Donald Spoto in seiner Hitchcock-Biografie: "Ein Horrorfilm, wie die meisten Leute sagen würden. Aber wenn man 'Psycho' mit diesem Begriff abtut, ist es fast so, als würde man sagen, 'Hamlet' ist ein Stück über einen konfusen jungen Mann, der mit seiner Familie nicht zurechtkommt."
Dem amerikanischen Autor und Theologen Spoto, dem wir wohl eines der besten Bücher über den Meisterregisseur verdanken, fügt weitere Beispiele an: Ebenso wenig wie "Psycho" nur ein Horrorfilm sei, sei Vincent van Goghs "Sternenhimmel" nur eine "verzerrte Sicht einer holländischen Landschaft". Oder "Ödipus" lediglich die Geschichte "einer hochneurotischen königlichen Familie". Da hat Spoto sicherlich Recht: In "Psycho" steckt mehr drin.
16. Juni 1960: legendäre Premiere in New York
Aber man kann diesen Film natürlich auch nur so sehen: als Grusel- und Schauermärchen, als Unterhaltung und reines Spannungskino. So hat das auch funktioniert, als "Psycho" damals, am 16. Juni 1960, in New York zur Uraufführung kam. Die Leute müssen gebibbert - und mit offenen Mündern im Kinosessel gehockt haben. Aufgelöst und atemlos. Leider existieren keine Filmaufnahmen von der Premiere.
Doch "Psycho" wurde schnell bekannt. So schnell, dass der Film rasch Millionen einspielte. Es wurde der kommerziell erfolgreichste Film des ja sowieso nicht gerade unpopulären Regisseurs Alfred Hitchcock. Das lag schlichtweg auch an ein paar cleveren Handlungskniffen.
Die Geschichte einer Büroangestellten, die 40.000 Dollar unterschlägt, ein schlechtes Gewissen bekommt und das Ganze rückgängig machen will und dabei in die Fänge eines psychisch gestörten, jungen Mannes gerät, ist schnell erzählt. Und eigentlich im Grunde - zumindest aus heutiger Sicht - noch nicht mal sonderlich originell. Was aber sensationell war, ist zum Beispiel die Tatsache, dass ebenjene Hauptdarstellerin, die zudem der bekannteste Name auf der Besetzungsliste war, nach nicht einmal der Hälfte des Films getötet wird.
Tod nach einem Filmdrittel: Janet Leigh
Das war ein Schock. Die Hauptattraktion des Films, einfach so weg? Wie konnte das sein? Hitchcock entzog mit dieser Finte den Zuschauern den sicheren Boden unter den Füßen. Von da an war alles möglich. Und auch wie das geschah, war eine Sensation: die Dusch-Szene! Kaum eine andere Film-Sequenz der Kinogeschichte ist öfter beschrieben und zitiert worden. Zwei Minuten Film - davon dauerte der Mord ganze 45 Sekunden, 78 Kameraeinstellungen, 52 Schnitte. Das war Kunst. Eine verstörende Kunst, zugegeben - für die damalige Zeit.
Was dann im Film folgte, war auch nicht schlecht. Ein auf den ersten Blick sehr netter junger Mann, der sich als schizoider Mörder entpuppt, der in Frauenkleidern in eine grausige Rolle schlüpft. Die Szene mit dem Detektiv, der zum zweiten Opfer von Bates wird und die Treppe im Horrorhaus hinunterstürzt. Die ausgestopfte Mutter, die auf einem Drehstuhl herumgewirbelt wird und den Zuschauer anzugrinsen scheint. Und dann die Szene, in der Bates ein letztes Mal zu morden versucht, mit grässlicher Perücke und verzerrter Körperhaltung - und daran im letzten Moment gehindert wird. Vor allem das ist auch heute noch furchterregend anzuschauen.
Donald Spoto: Ein Film über moralischen und psychischen Verfall
Das führt zu einem weiteren Mysterium dieses Films. Man kann ihn sich immer und immer wieder anschauen. Weil er eben weit mehr ist als ein Horrorfilm. Noch einmal Donald Spoto: "Wenn man den Film das erste Mal sieht, empfindet man vor allem die Spannung und den Horror. Aber nach mehrmaligem Anschauen bleibt vor allem ein Gefühl der Trauer", schreibt Hitchcocks Biograf und fährt fort: "Wie vermutlich kein anderer amerikanischer Film vor oder nach ihm beschreibt 'Psycho' den Preis vergeudeten Lebens in einer Welt, die wir so gut kennen, dass sie uns auf den ersten Blick völlig harmlos erscheint: die Welt der Büroangestellten und der Mittagspausenliebschaften, der halb aufgegessenen Käse-Sandwiches, der abgelegenen Motels, der schüchternen jungen Männer und der mütterlichen Selbstaufopferung."
Und diese "scheinbare Harmlosigkeit", so Spoto in seinem Fazit zu "Psycho", sei letztendlich nichts "als ein dünner Schleier, unter dem sich ein moralischer und psychischer Verfall von erschreckendem Ausmaßen verbirgt". Mag sein, hier spricht der Theologe. Jeder Zuschauer muss selbst wissen, was er in "Psycho" sieht und was nicht.
Hitchcock interpretierte seinen Film nüchtern als effektiven Schocker
Und Alfred Hitchcock selbst? Der Regisseur machte im berühmten Interviewbuch, das er gemeinsam mit François Truffaut verfasste, folgende Aussage, nachdem der Franzose ihn gefragt hatte, ob man "Psycho" als Experimentalfilm bezeichnen könne? "Vielleicht. Für mich lag die Hauptbefriedigung darin, dass er aufs Publikum gewirkt hat." In "Psycho" sei es ihm nicht um das Sujet gegangen, auch nicht um die Personen: "Worauf es mir ankam, war, durch eine Anordnung von Filmstücken, Fotografie, Ton, lauter technische Sachen, das Publikum zum Schreien zu bringen (…) Es war der reine Film, der die Zuschauer erschüttert hat." So nüchtern kann man es natürlich auch sehen.