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Vormacht wider Willen?

Bernd Riegert3. Oktober 2015

Die Rolle, die das vereinigte Deutschland in Europa spielt, ist schwer zu fassen - und sie ändert sich ständig. Bescheidene Vormacht oder machthungriger Elefant im europäischen Porzellanladen? Bernd Riegert aus Brüssel.

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Symbolbild Deutschland Europa Flagge
Bild: picture-alliance/dpa

25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Deutschland immer noch "eine zögerliche Vormacht wider Willen", meint Sasha de Wijs, Mitarbeiter der Denkfabrik und Netzwerk-Organisation "Crisis Action" in Brüssel. Deutschland sei vor allem stark, weil seine Nachbarn so schwach seien. Bereits 2013 schrieb das britische Magazin "The Economist", Deutschland sei ein widerstrebender Hegemon, der mehr führen müsse. "Europa ist deutsch", schreibt dagegen der Brüsseler Korrespondent der Tageszeitung "taz", Eric Bonse. Er verweist auf den übergroßen Einfluss, den Deutsche in den europäischen Institutionen wie EU-Kommission, Ministerrat und Parlament hätten. Eine "deutsche Übermacht" in Europa kann hingegen die ehemalige französische Europaministerin Noelle Lenoir nicht erkennen. "Bundeskanzlerin Angela Merkel ist vielleicht die proeuropäischste Regierungschefin, die es zurzeit in Europa gibt. Sie kann vor allem Kompromisse machen und nimmt Rücksicht auf Frankreich", sagte Lenoir kürzlich im französischen Fernsehsender France24.

Deutschland und Frankreich als unverzichtbares Paar

Traditionell ist das deutsch-französische Tandem der Kern der europäischen Einigung und der Motor für neue Entwicklungen gewesen. In diesem Tandem sitzt zurzeit Deutschland an der Lenkstange, glaubt der deutsche Europa-Abgeordnete Elmar Brok. Das sei aber nicht so, weil Deutschland das unbedingt wolle, sondern weil Frankreich wirtschaftlich schwächer und mit internen Reformen beschäftigt sei. Brok sitzt dem Auswärtigen Ausschuss des Europa-Parlaments vor und war schon während der Wiedervereinigung Abgeordneter in Straßburg. "Ich glaube, dass wir gar nicht so gerne alleine führen. Deshalb hoffen wir sehr, dass Frankreich wieder in voller Form hineinkommt. Es ist psychologisch oft einfacher, wenn man das zu zweit macht, wie das in der Vergangenheit oft der Fall gewesen ist. Ich glaube, dass hier die wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs positiv sein muss, damit wir diese doppelte Führungsrolle wahrnehmen können", erläutert der erfahrene Europapolitiker im Gespräch mit der DW. Wichtig sei außerdem, auch Polen als dritten Partner in das Führungsgespann einzubinden.

Belgien EU Europaparlament Guy Verhofstadt
Nach Anlaufschwierigkeiten, klappt jetzt die Zusammenarbeit: Merkel, HollandeBild: Getty Images/B. Guay

Automatische EU-Mitgliedschaft für die Ostdeutschen

An die anfänglichen Bedenken einiger Mitgliedsstaaten wie Frankreich und Großbritannien gegen die Wiedervereinigung Deutschlands kann man sich in Brüssel nur noch schemenhaft erinnern. Im politischen Alltag spielt das keine Rolle mehr. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union fiel den DDR-Bürgern 1990 quasi über Nacht durch den Beitritt zur Bundesrepublik in den Schoß. Es brauchte keine Beitrittsverhandlungen und keine langwierigen Verfahren, erinnert sich der ehemalige Beamte der Europäischen Kommission, Carlo Trojan. Er war 1990 an den Verhandlungen über den Einheitsvertrag zwischen Bonn und Berlin beteiligt. Schon im Juni 1990 stimmte die EU der Aufnahme der DDR-Bevölkerung in die Union zu, die noch Europäische Gemeinschaft hieß. Gleichzeitig wurde beim Gipfel in Dublin 1990 die Entwicklung einer Währungsgemeinschaft und einer politischen Union auf den Weg gebracht. Kurzformel: Der Euro war die Gegenleistung der Deutschen für die Einheit.

"Wir sind groß und sollten nicht belehren"

In den aktuellen Krisen um den Euro, Griechenland, die Ukraine und jetzt die Flüchtlinge gibt Deutschland oft den Ton an. Besonders die Vormacht in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik führt dazu, dass das Klischee des hässlichen Deutschen wieder hervorgeholt wird. Die Plakate, die Bundeskanzlerin Merkel in Griechenland und Italien in SS-Uniform oder als Hitler-Double zeigten, zeugen davon. Mit seiner Sparpolitik spaltet Deutschland Europa.

Der christdemokratische Europa-Abgeordnete Brok rät zu Bescheidenheit: "Wir müssen nur aufpassen, dass wir als größtes Land dieses nicht immer wieder zum Ausdruck bringen, weil das dann Misstrauen der Kleinen zur Folge hat. Wir sollen sie nicht immer belehren. Das müssen wir uns immer vor Augen halten."

Europa-Abgeordneter Elmar Brok: Bescheiden führen

"Deutschland sollte stärker führen"

Und wie sieht das der Vertreter eines kleinen Landes? Der ehemalige belgische Premierminister Guy Verhofstadt sagte der DW, Deutschland könne in Europa ruhig ehrgeiziger sein und energischer vorangehen. "Vielleicht haben wir das seit der Wiedervereinigung ein wenig verloren. Deutschland hatte die Führung übernommen und gesagt, wir müssen die Integration des europäischen Kontinents voranbringen. Das war immer die historische Aufgabe Deutschlands im ausgehenden 20. Jahrhundert. Ich hoffe, dass Deutschland das fortsetzt. Wir brauchen deutsche Führungspersönlichkeiten", meint Verhofstadt, der heute die liberale Fraktion im Europäischen Parlament anführt.

Defizite bei der deutschen Rolle in Europa sieht der Außenpolitiker Elmar Brok besonders beim gemeinsamen außenpolitischen Handeln Deutschlands und Frankreichs: "Ich glaube, wir brauchen eine bessere Abstimmung der Strategie. Die Franzosen sind sehr an Afrika interessiert, sind sehr viel mehr am Mittelmeerraum interessiert. Sie sind eher bereit und in der Lage, militärisch Führung zu übernehmen. Das müssen wir mehr gemeinsam ansprechen, um eine gemeinsame Strategie im Rahmen Europas zu entwickeln." Beim Umgang mit der Ukraine-Krise und Russland habe das allerdings gut geklappt, gibt die französische Politik-Professorin Noelle Lenoir zu bedenken. "Merkel und Staatspräsident Hollande arbeiten da gut zusammen", so Lenoir im französischen Sender France24. Dem deutsch-französischen Tandem fehle allerdings ein klares Ziel, wohin das Projekt Europa in Zukunft steuern solle.

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Guy Verhofstadt: Wo ist die deutsche Vision?Bild: FREDERICK FLORIN/AFP/Getty Images
Infografik Wer hat den größten Einfluss auf den politischen Kurs in Europa? (Parteien) Deutsch
So sehen sich die Deutschen ihren Einfluss in Europa (nach Parteien sortiert)

Einen Sprung wagen

Das findet auch der ehemalige belgische Premier Guy Verhofstadt. Er beklagt das Fehlen einer längerfristigen deutschen Vision für Europa. "Es geht immer nur Schritt um Schritt voran. Aber Schritt für Schritt ist, wenn man mit der Euro-Krise oder der Flüchtlingskrise umzugehen hat, zu wenig. Man hinkt immer hinterher. Manchmal muss man im Leben einen großen Sprung nach vorne wagen. Das gilt im privaten Leben, das gilt auch für supranationale Organisationen wie Europa."