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Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich

13. Mai 2021

Arme werden immer ärmer, Reiche immer reicher. Das zeigt ein Bericht der Regierung. Kritiker beklagen, dass Corona die soziale Ungleichheit noch verstärkt.

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Symbolbild Obdachlosigkeit & Kluft zwischen Arm und Reich
Bild: picture-alliance/Ulrich Baumgarten

Djamila Kordus ist eine mutige Frau. Die gelernte Einzelhandelskauffrau wagt sich ins Fernsehen und damit vor ein Millionenpublikum in die ARD-Talkshow "Hart aber fair". Das Thema der Sendung am 10. Mai: "Arm trotz Arbeit - wird sozialer Aufstieg zum leeren Versprechen?". Djamila Kordus ist alleinerziehende Mutter. Das Geld sei immer knapp, obwohl sie einen Vollzeitjob bei einem großen Online-Händler als Lageristin habe, sagt sie. Ihr blieben rund 500 Euro zum Leben, nach Abzug aller Fixkosten. 

Arm trotz Arbeit - immer häufiger ist das bundesdeutsche Realität. Das belegt auch der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht Armes reiches Deutschlandder Bundesregierung. Das Regierungskabinett hat den Bericht aus dem Arbeitsministerium am Mittwoch verabschiedet. Voraussichtlich wird im Juni noch einmal im Bundestag über die Ergebnisse debattiert.

Alle vier Jahre lässt die Regierung den umfangreichen Bericht (500 Seiten) erstellen, der einen Überblick über die soziale Situation in Deutschland geben soll. Und die sieht eher düster aus: Die Schere zwischen Armen und Reichen geht in Deutschland immer weiter auseinander. Und: Die Corona-Pandemie hat die Situation zusätzlich verschärft. Für die Oppositionsparteien, Gewerkschaften und Sozialverbände ist das ein Alarmsignal.

Für Joachim Rock vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband ist klar: "Der Bericht zeigt, dass die Krise die Ärmsten am härtesten getroffen hat." Im Interview mit der Deutschen Welle sagt er, dass gerade in der Corona-Krise Menschen mit geringem Einkommen ein hohes Risiko gehabt hätten, "Arbeit und Einkommen zu verlieren". Reiche Menschen hätten sich deutlich weniger einschränken müssen.

Dr. Joachim Rock Abteilungsleiter
"Ein Zeugnis von Armut und Ungleichheit" sei der Bericht, sagt Joachim Rock vom Paritätischen WohlfahrtsverbandBild: Die Hoffotografen GmbH Berlin

Arm in Deutschland

Doch was heißt arm in Deutschland? Sind Menschen arm, die kein Dach über dem Kopf haben, Pfandflaschen sammeln oder von staatlicher Unterstützung leben? Oder sind es auch die Menschen, die einen Vollzeitjob haben, aber vom Lohn nicht leben können?

In Deutschland ist das genau definiert. Arm ist, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettolohns erhält, das sind derzeit 1176 Euro. Reich ist, wer monatlich mehr als 3900 Euro Nettogehalt bezieht. Dazu gehören aber auch Superreiche, wie der Eigentümer der Lidl-Supermarktkette, Dieter Schwarz. Sein Privatvermögen wird auf mehr als 20 Milliarden Euro geschätzt. Der Anteil an reichen Menschen in Deutschland ist in den letzten Jahren immer weiter angestiegen, zeigt der sechste Armuts- und Reichtumsbericht. Ebenso der Anteil der Armen. Gleichzeitig schrumpft die Einkommensmitte immer weiter.

Infografik  Armutsrisikoquote in Deutschland DE

Die Situation wurde durch die Corona-Pandemie sogar noch verschärft. In einer Befragung für den Bericht gab rund ein Viertel der Haushalte an, dass ihr Einkommen in der Corona-Krise geschrumpft sei. Gering- und Normalverdiener waren davon besonders betroffen.

Joachim Rock vom Deutschen Paritätischen Gesamtverband beobachtet schon lange, dass sich die Einkommen in Deutschland sehr unterschiedlich entwickeln: "Während Menschen mit geringen Einkommen häufig reale Einkommensverluste hinnehmen mussten, wuchsen höhere Einkommen deutlich stärker. Die Vermögen sind sehr ungleich verteilt: Die reichste Hälfte der Bevölkerung verfügt über 99,5 Prozent der Vermögen." Über ein sehr hohes Nettovermögen verfügen rund 3,8 Prozent der Bevölkerung. Sie besitzen mehr als eine halbe Millionen Euro, also Immobilien, Geldanlagen oder Betriebsvermögen.

Infografik Top-Nettovermögende DE

Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt erklärte, die wachsende Schere zwischen Arm und Reich und die Erfahrung von immer mehr Menschen, in der Krise hängengelassen zu werden, sei Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und die sozialpolitische Sprecherin der Linken, Katja Kipping, sagte der Deutschen Welle: "Das neoliberale Aufstiegsversprechen enthüllt sich zumindest für ärmere Schichten als leeres Versprechen."

Schlechtes Zeugnis für die Merkel-Jahre

Joachim Rock stellt Bundeskanzlerin Angela Merkel für ihre gesamte Regierungszeit ein eher schlechtes Zeugnis aus: "Die Ungleichheit in Deutschland ist in den vergangenen 16 Jahren deutlich gewachsen", sagt er. "Die 2005 in Kraft getretenen Sozialreformen haben dazu maßgeblich beigetragen: 1995 lebten nur 15 Prozent der Arbeitslosen in Armut, 2005 waren es bereits über 35 Prozent und 2015 fast zwei Drittel."

Berlin | Angela Merkel beim Flüchtlingsgipfel
Kanzlerin Angela Merkel und Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD), aus dessen Ministerium der Bericht stammtBild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Haben Menschen wenig Geld, hat dies auch politische Folgen. Das sieht die Bundesregierung mit großer Sorge, denn sie weiß: Je geringer das Einkommen, desto geringer das politische Engagement und die Wahlbereitschaft. Die noch amtierende Regierung wird an der sozialen Situation der Deutschen nicht mehr viel ändern können, im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Aber schon jetzt zeigt sich, die Einkommens- und Gerechtigkeitsfrage wird im Wahlkampf eine große Rolle spielen: Kommt eine Steuer auf hohe Vermögen? Soll man die Belastungen für Gutverdiener anheben? Muss der Mindestlohn steigen?

Sozialer Aufstieg ist für Ärmere sehr schwierig

In der Regierungsanalyse wird festgestellt: Der Traum vom sozialen Aufstieg bleibt für ärmere Menschen und ihre Kinder meist unerfüllt. Menschen im Niedriglohnsektor und ihre Kinder haben nur sehr geringe Aufstiegschancen. Joachim Rock erklärt das so: "Kinder und Jugendliche aus wohlhabenden Familien gehen beispielsweise fünfmal häufiger auf ein Gymnasium als solche, die in Armut leben."

Symbolbild Reichtum Champagner Flaschen
Gute Bildung für den Nachwuchs und Wohlstand - für Ärmere kaum erreichbarBild: picture-alliance/dpa/J. Kalaene

Für Menschen wie Djamila Kordus, die alleinerziehende Mutter aus Berlin, die den Mut fand, über ihr Schicksal im Fernsehen zu berichten, muss der Regierungsbericht ziemlich ernüchternd wirken. Aber eines kommt für sie nicht in Betracht: staatliche Hilfsgelder zu beziehen statt Arbeiten zu gehen. "Ich bin damit groß geworden, dass Arbeit das Wichtigste ist", sagt sie in der TV-Talkrunde. Außerdem wolle sie ihrer Tochter ein Vorbild sein: "Wenn ich nur zu Hause sitze - was sollen die Kinder denn später mal machen?"

 

 

 

Volker Witting
Volker Witting Politischer Korrespondent für DW-TV und Online