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PolitikGeorgien

Wahl in Georgien: Land am Scheideweg

25. Oktober 2024

In Georgien wird am Samstag ein neues Parlament gewählt. Die Wahl gilt als entscheidend für die Zukunft des Landes und seinen Weg in die Europäische Union. Juri Rescheto berichtet aus Tiflis.

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Georgien, Wahlplakate in Tiflis: Links blaue Plakate an einer Wand, rechts geht eine Frau in gelbem Mantel vorbei
Der Weg in die EU dominiert die Wahl in Georgien: Wahlplakate in TiflisBild: GIORGI ARJEVANIDZE/AFP/Getty Images

Georgiens Hauptstadt Tiflis ist blau in diesen Tagen. Das Blau der EU-Fahne mit ihren Sternen und das Weiß der georgischen Staatsflagge mit ihren Kreuzen dominieren die Wahlplakate der Parteien. Kein Wunder: Georgiens Weg in die Europäische Union ist eines der Hauptthemen dieser Wahl. Das Ziel, in die EU aufgenommen zu werden, ist sogar seit 2018 in der Verfassung des kaukasischen Staates festgeschrieben. Rund achtzig Prozent der Bevölkerung wollen das. Das zeigen die Umfragen seit Jahren. Stabil.

Eine Menschenmenge marschiert um Dunkeln und viele schwenken EU-Fahnen und georgische Fahnen
Die große Mehrheit der Georgierinnen und Georgier will in die EU: Demo in Tiflis am 20. OktoberBild: VANO SHLAMOV/AFP

Ironie des Schicksals: Georgiens Weg in die EU hat ausgerechnet jene Partei vor fünf Jahren verankert, der Kritiker heute vorwerfen, das Land immer weiter von der EU zu entfernen: die Regierungspartei Georgischer Traum. "Ja zur EU - aber mit Würde!" ist der Wahlslogan dieser Partei heute. "Mit Würde" heißt so viel wie: zu unseren eigenen Bedingungen.

Georgien zwischen Europa und Russland

Seit 1991 ist die frühere Sowjetrepublik Georgien unabhängig - jetzt steht das Land zum ersten Mal wirklich am Scheideweg: Europa oder Russland. Das sagt Renata Skardziute-Kereselidze von der Denkfabrik Georgian Institute of Politics in Tiflis. Im DW-Interview stellt die Politikwissenschaftlerin fest: "Es handelt sich nicht nur um eine Polarisierung, wie wir sie seit Jahren beobachten. Die derzeitige Regierung droht, Oppositionsparteien ganz zu verbieten und unabhängige Medien und Organisationen zu verfolgen." Für Skardziute-Kereselidze ist das "wirklich beunruhigend."

Schicksalswahl in Georgien: Wohin steuert das Land?

Aber schafft es der Georgische Traum, mit solchen Drohungen seine Macht zu erhalten? Nach drei Amtszeiten sei es für keine Partei einfach, in der Regierung zu bleiben, denn es gebe nach so langer Zeit immer viel zu kritisieren, diagnostiziert Skardziute-Kereselidze. Ein Regierungswechsel wäre also für die georgische Demokratie gesund. "Allerdings wird es für alle georgischen Oppositionsparteien schwierig sein, die Wahlen entscheidend zu gewinnen." Denn sie alle locken die Menschen mit der gleichen blauen Europa-Fahne.

Regierung schürt Ängste: Vor Krieg, vor LGBTQ

Aber was bedeutet die formelle EU-Mitgliedschaft im realen Leben? Wie schwer wird es sein, einen Teil der Souveränität aufzugeben und bestimmte Kontrollen der EU zu überlassen? Wie garantiert Georgien die Meinungsfreiheit und andere Menschenrechte, die Grundpfeiler der Europäischen Union? Wie sollen alternative Lebensmodelle respektiert, religiöse, nationale und sexuelle Minderheiten geschützt werden? Georgien ist ein christlich-konservatives Land, geprägt von der mächtigen Georgisch-Orthodoxen Kirche, einer der vertrauenswürdigsten Institutionen des Landes. Passt das zueinander?

Auch Russlands Krieg in der Ukraine wirft seine Schatten. "Nein zum Krieg und Ja zum Frieden" steht auf den Wahlplakaten des Georgischen Traums. Das hat für Irritationen gesorgt, denn zu sehen sind Fotos zerstörter ukrainischer Orte - und daneben pittoreske Städte Georgiens. Kiew protestierte gegen diese Gegenüberstellung, ohne Erfolg. Die Plakate hängen immer noch, ihre Botschaft ist klar: Den Frieden garantiert nur die jetzige Regierung in Tiflis. Alle anderen seien Anhänger einer ominösen "globalen Kriegspartei", die Zerstörung bringe.

Plakat der Partei Georgischer Traum vor einer Reihe großer Mietshäuser im Hintergrund zeigt links ein zerstörtes Theater in der Ukraine unter grauem Himmel, rechts ein erhaltenes Gebäude in Georginen unter blauem Himmel
Kaputte Ukraine, heiles Georgien? Krieg als Wahlthema des Georgischen TraumsBild: Katharina Schröder/picture alliance/dpa/epa/Scanpix

Dieses Narrativ nutzt der Georgische Traum immer öfter. Ihr Gründer, Ex-Premier Bidsina Iwanischwili, wirft bedenkenlos den Krieg mit LGBTQ-Rechten in einen Topf. In einem Fernsehinterview erklärte er, die angebliche westliche Propaganda sexueller Minderheiten gefährde die georgische Gesellschaft: "Die globale Kriegspartei ist eine sehr mächtige Kraft mit vielen Ressourcen. Sie konfrontiert die Welt mit der LGBTQ-Propaganda, beeinflusst viele Bürokraten in den Entwicklungsländern." Wenn die Opposition die Macht zurückgewönne, gäbe es am nächsten Tag in Georgien Krieg.

Gesetze nach russischem Vorbild

Georgien gilt immer noch als Entwicklungsland - aber den Kampf um die sogenannten traditionellen Familienwerte hat sich der Georgische Traum auf die Fahnen geschrieben, als hätte das Land keine anderen Sorgen. Erst vor wenigen Wochen wurde ein queer-feindliches Gesetz zum mutmaßlichen Schutz von Familienwerten und Minderjährigen verabschiedet, ganz nach dem russischen Vorbild. Im benachbarten Russland gilt seit Jahren das Gesetz über die sogenannte Gay-Propaganda.

Plakat der Partei Georgischer Traum zeigt Köpfe von Oppositionspolitikern an Hundeleinen, davor Straßenverkehr
"Nein zum Krieg, Nein zu Agenten" - der Georgische Traum stellt Porträts von Oppositionspolitikern an den PrangerBild: GIORGI ARJEVANIDZE/AFP via Getty Images

Eine weitere Parallele ist das Gesetz über die sogenannten ausländischen Agenten. Es schreibt vor, dass Organisationen, die einen bestimmten Teil ihrer Finanzmittel aus dem Ausland erhalten, sich als "Agenten ausländischer Einflussnahme" registrieren lassen müssen. Es wurde trotz Massenprotesten im Mai dieses Jahres im Parlament durchgeboxt. Auch hier ist eine ideologische Hinwendung zu Russland und Abwendung von Europa offensichtlich. Russland hat 2012 ein ähnliches Gesetz gegen angebliche ausländische Agenten verabschiedet, das die Arbeit regierungskritischer Medien und Einrichtungen gefährdet.

Das Agenten-Gesetz kostete Georgien übrigens das Einfrieren von Beitrittsverhandlungen, nachdem die EU dem Land gerade ein halbes Jahr zuvor den Bewerbungsstatus zuerkannt hatte.

Eine Wahl mit offenem Ausgang

Für die 28-jährige queere Aktivistin Tamar Jakeli vom Verein Tbilisi Pride geht es den Machthabern nur darum, vom eigenen Versagen abzulenken. Der DW sagt sie: "Ich denke, die Regierung verliert an Unterstützung im Allgemeinen. In den vergangenen zwölf Jahren ist es ihr nicht gelungen, Versprechen eines sozialen Staates zu erfüllen." Statt das Leben der Bürger zu verbessern, sähe der Georgische Traum Spaltung und Hass.

Demonstranten ringen mit Sicherheitskräften
Spaltung und Hass: Polizisten versuchen, queer-feindliche Demonstranten davon abzuhalten, ein LGBTQ-Festival zu sprengen (Juli 2023)Bild: Zurab Tsertsvadze/AP/picture alliance

Sollte sich nach der Wahl nichts ändern, denke sie darüber nach, Georgien zu verlassen - wie viele in ihrer Generation. Noch aber sei es zu früh, der Wahlausgang sei offen, sinniert Tamar Jakeli. Und was denken die anderen? Umfragen sind unzuverlässig in diesen Tagen in Georgien. Mal heißt es, die Regierungspartei habe knapp dreißig Prozent Zustimmung, mal sind es mehr als sechzig.

Viele Menschen auf den Straßen von Tiflis wollen aber in jedem Fall, dass ihr Land so bald wie möglich der EU beitritt. "Ich denke, dass pro-EU-Parteien gewinnen werden und Georgien auf seinen europäischen Weg zurückkehren wird", sagt eine junge Frau am Platz der Unabhängigkeit. "Die Leute laufen jetzt schon weg, Georgien wird bald leer sein, wenn es so weitergeht", gesteht ein junger Mann. "Jeder will bessere Lebensbedingungen und wir hoffen auf Europa."

Für die Politikforscherin Renata Skardziute-Kereselidze ist klar: Dieser Urnengang wird auch eine Protestwahl. Viele Wähler entschieden sich gegen die Regierung, um endlich stärker an die EU angebunden zu werden. "Diese Wahl ist eine Wahl für die langfristige Stabilität und Sicherheit", statt für eine Annährung an Russland. Für das EU-Blau also und nicht für die russische weiß-blau-rote Trikolore.

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Juri Rescheto Studioleiter Riga