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Politik

"Deutschland ist das anständigste Land Europas"

9. Mai 2017

Die Deutschen sollten ihre Komplexe ablegen und in Europa Führung übernehmen: Das wünscht sich der Friedensnobelpreisträger und ehemalige polnische Präsident Lech Walesa im DW-Interview.

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Lech Walesa
Bild: M. Biedrzycki /Lech-Walesa-Institut

Walesa: Komplexe ablegen, Führung übernehmen

DW: In welche Richtung bewegt sich Europa heute?

Lech Walesa: Das ist eine gute Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen. Wir müssen Europas Fundamente hinterfragen, sein ökonomisches System, sein Modell der Demokratie.

Wir müssen uns mit Populismus, Demagogie und Amtsmissbrauch seitens der Politiker auseinandersetzen. Wir müssen das ernst nehmen, was die Straße sagt: Denn den Menschen gefällt vieles nicht, sie haben das Vertrauen in die Parteien verloren. Schauen Sie nach Frankreich: Dort hat keine der etablierten Parteien ihren Kandidaten in die Stichwahl schicken können. Der Präsident wird ein unabhängiger, eigentlich parteiloser Kandidat. Das lehrt uns, dass die Strukturen, die wir haben, nicht zur Realität passen. Wir kommen in eine neue Epoche und brauchen eine Debatte über neue Strukturen. 

Am 4. Juni 2014 hat der damalige US-Präsident Barack Obama auf dem Schlossplatz in Warschau vor vielen Staats- und Regierungschefs Europas eine historische Rede gehalten. Er hat auch Ihnen für Ihren Beitrag zum Sturz des Kommunismus und der Befreiung Osteuropas gedankt. Was empfinden Sie, wenn Sie am gleichen Ort - wie vor einigen Tagen - einen Aufmarsch der Rechtsradikalen mit nationalistischen Symbolen erleben müssen? 

Wir haben keine Lösungen. Und dort, wo es keine Lösungen gibt, werden Dämonen wach. Einige gehen zu weit nach Rechts in ihrer Suche; andere, wie in den Vereinigten Staaten, treffen eine erstaunliche Wahl. Deswegen müssen wir die Debatte über die besseren Lösungen vorantreiben. Wir müssen unsere Demokratie verbessern. Denn wenn wir das nicht schaffen, wird eine Revolte stattfinden.

Und in welche Richtung bewegt sich Polen jetzt?

Polen sucht zu weit rechts, wir vermischen auch die Religion zu viel mit der Politik. Aber das ist eine Suche, denn vieles, was wir im freien Polen aufgebaut haben, ist unvollendet. Das, was jetzt geschieht, hat mit Fehlentwicklungen zu tun. Wir sind dadurch gefordert, gute Lösungen zu finden. Denn die Diagnose ist in ganz Europa dieselbe. Die Unzufriedenheit ist überall. Es kommt also auf die Heilung an. Die Regierenden in Polen verfolgen eine falsche Therapie. Man muss Probleme lösen, aber nicht auf diese Weise, indem man die Prinzipien der Demokratie bricht. Nicht so. 

Lech Walesa Streikführer 1980
Walesa als Streikführer in Danzig im Jahr 1980 Bild: picture-alliance/dpa/Lehtikuva Oy

Was muss man also tun, um die Populisten zu stoppen?

Das benennen, was uns nicht gefällt. Entsprechende Programme und Strukturen schaffen. Bei den nächsten Wahlen die Politik zwingen, das umzusetzen.

Die polnische Rechte greift gerne anti-deutsche Ressentiments auf und entwirft Schreckensszenarien über eine deutsche Dominanz. Sehen Sie die Deutschen als eine Bedrohung?   

Ich habe das Recht, das auszusprechen, denn ich habe im Krieg meinen Vater verloren: Deutschland ist heute das anständigste Land Europas. Aber die Deutschen haben Komplexe. Sie sollen die Komplexe ablegen und die Führung in Europa übernehmen, denn als die größte Macht tragen sie Verantwortung für Europas Entwicklung.  

Wir sehen, dass es einige gibt, die Europa zerstören wollen. Die Deutschen sollen darauf vorbereitet sein und fünf Minuten nach dessen Zerfall ein neues Europa gründen, nur klüger!  

Das Gespräch führte Bartosz Dudek. 

Porträt eines Mannes, der eine Brille trägt
Bartosz Dudek Redakteur und Autor der DW Programs for Europe