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Günter Wallraff enthüllt weiter

Martin Koch1. Oktober 2012

Er ist Deutschlands bekanntester Enthüllungsjournalist und feiert jetzt seinen 70. Geburtstag. Der Undercover-Reporter mit den vielen Identitäten hat sich damit nicht nur Freunde gemacht. Stört ihn nicht. Aufhören? Nein.

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Günter Wallraff, Enthuellungsjournalist (Foto: ddp)
Bild: dapd

Er war der falsche Sensationsreporter Hans Esser bei der "Bild"-Zeitung, als vermeintlicher türkischer Leiharbeiter Ali schuftete er undercover unter anderem bei McDonald's in der Küche und in einem Stahlwerk von Thyssen. Seine Bücher über die zum Teil menschenverachtende Arbeitsweise der Boulevardzeitung und die unzumutbaren Bedingungen für Migranten in Großkonzernen machten ihn Ende der 1970er, Anfang der 80er Jahre bekannt. Doch schon davor hatte der gelernte Buchhändler verdeckt recherchiert: Er gab sich als Obdachloser, als Alkoholiker in einer psychiatrischen Klinik oder als Waffenhändler aus und schrieb darüber.

Günter Wallraff stellt 1977 in Bonn sein Buch 'Der Aufmacher' vor (Foto: picture alliance)
Günter Wallraff 1977 als falscher Bild-Reporter "Hans Esser"Bild: picture-alliance/Peter Popp

Dieser Drang, andere Identitäten anzunehmen und sich auszuprobieren, war bei Günter Wallraff schon früh erkennbar, wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen erzählt: "Es gibt einen Tagebucheintrag von ihm als 17-Jähriger, der lautet: 'Ich bin mein eigener heimlicher Maskenbildner, setze mir ständig neue Masken auf, um mich zu suchen.'"

Bei dieser Suche nach sich selbst wechselte Wallraff immer wieder zwischen seiner Rolle als Enthüllungsjournalist und als Schriftsteller. Das Ziel dabei sei von Anfang an klar gewesen, sagt der Wallraff-Biograf und Journalist Jürgen Gottschlich. Wallraff habe immer versucht, Tabuthemen aufzugreifen und sie einem möglichst breiten Publikum zu präsentieren: "Und das hat er ja auch geschafft. Sowohl mit der "Bild"-Geschichte als auch mit dem Buch "Ganz unten" über türkische Migranten in Deutschland hat er ja dazu beigetragen, dass ein anderes Bewusstsein entstanden ist." In Schweden hat das Wort "wallraffen" sogar in den offiziellen Wortschatz Eingang gefunden, als Begriff für "etwas aufdecken, enthüllen".

Buchcover 'Ganz unten'

"Intervenierender Journalismus"

Auch für den Journalismus hat Wallraff große Bedeutung erlangt. Zwar gab es vor und nach ihm Enthüllungsjournalisten, doch nur wenige haben sich mit so viel persönlichem Einsatz ihrer Recherche verschrieben. Für Professor Bernhard Pörksen hat Günter Wallraff den Begriff des "intervenierenden Journalisten" erfunden, der nicht mehr objektiv berichtet: "Günter Wallraff nimmt ganz klar Partei für die Schwächeren, für Opfer, für Obdachlose, für diejenigen, die in unserer Gesellschaft ausgebeutet und geschunden werden."

Nachdem es in den 1990ern ruhig um den gebürtigen Burscheider geworden war, meldete er sich in den vergangenen Jahren mit mehreren spektakulären Reportagen zurück: Er deckte Missstände in Callcentern auf, in Großbäckereien und bei privaten Paketdiensten. Besonders viel Aufsehen - aber auch Kritik - erhielt er für seinen Selbstversuch, mehrere Monate lang als Farbiger quer durch Deutschland zu reisen. In dem Film "Schwarz auf Weiß" (2009) dokumentierte er, wie ihm offen oder versteckt Rassismus entgegengebracht wurde. Die Süddeutsche Zeitung kritisierte, diese Methode sei selbst rassistisch, weil er unterdrückte Minderheiten nachäffe. Mehrfach prozessierten Unternehmen gegen Wallraff und seine für sie unangenehmen Behauptungen, weil er sich mit seinen Methoden in einer rechtlichen Grauzone bewegte.

Günter Wallraff bei Dreharbeiten zu 'Schwarz auf Weiß'
"Schwarz auf Weiß": Günter Wallraff (l.)Bild: X Verleih

Soziales und politisches Engagement

Neben den aufsehenerregenden Reportagen hat sich Günter Wallraff schon früh politisch engagiert. 1974 wurde er in Athen nach einer Demonstration gegen das griechische Militärregime verhaftet und kam erst nach 14 Monaten Einzelhaft wieder frei. Er nahm den britischen Schriftsteller Salman Rushdie bei sich auf, als dieser wegen seines Buches "Die Satanischen Verse" vom Iran mit dem Tode bedroht wurde.

Das Eintreten für bedrohte Kollegen sei für Wallraff ein Lebensanliegen, sagt sein Biograf Jürgen Gottschlich, der als Korrespondent für die "tageszeitung" in Istanbul arbeitet: "Er war mehrfach in der Türkei, wenn Kollegen angeklagt waren, hat Publikationen unterstützt von türkischen oder kurdischen Journalisten, einige auch bei sich aufgenommen, auch nach Rushdie, ohne das an die große Glocke zu hängen."

Jürgen Gottschlich (Foto: Murat Türemis, Rechte bei J. Gottschlich)
Wallraff-Biograf Jürgen GottschlichBild: Murat Türemis

Wallraffs 70. Geburtstag wird jedoch von Vorwürfen eines ehemaligen Büromitarbeiters überschattet: Wallraff habe ihn schwarz bezahlt, sein Engagement nicht dem Finanzamt gemeldet und Sozialbeiträge nicht entrichtet. Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelt deshalb wegen Beihilfe zum Sozialhilfebetrug. Doch bremsen wird den Jubilar das alles sicher nicht, weiß Jürgen Gottschlich: "Wallraff ist unheimlich mit Energie aufgeladen, er redet viel, macht viel, rennt Marathon, ist ein rastloser Typ. Das ist wohl auch der Grund, warum er mit 70 nicht aufhören kann."