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Eine Hexe in der Familie

Karin Helmstaedt
30. April 2023

Rund die Hälfte aller Opfer der Hexenverbrennung starben in Deutschland. Unter ihnen auch eine Vorfahrin von DW-Reporterin Karin Helmstaedt. Sie machte sich auf zum "Hexenhügel".

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Steinstatue einer Person, die auf einem Besen sitzt
Eine Statue in Winningen erinnert daran, dass die Gegend ein Zentrum der Hexenverfolgung warBild: Arthur Selbach/DUMONT Bildarchiv/picture alliance

Die Jagd auf Hexen – damals und heute

Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich erfuhr, dass wir eine Hexe in der Familie haben. Ich ging mit meinen Eltern einen Hügel hinauf, von dem aus man Winningen überblicken konnte, einen malerischen Weinort am Ufer der Mosel. Es war eine Pilgerreise zum "Hexenhügel", wo ein düsterer Obelisk an 21 Menschen erinnert, die bei den Hexenprozessen in Winningen ums Leben kamen.

Für ein kanadisches Kind, das gerade erst Europa entdeckte, war das eine ziemliche Offenbarung. In meinem Kopf tauchten sofort schreckliche Bilder auf. Ich fuhr mit dem Finger über die grobe Gravur des Namens meiner 9. Urgroßmutter: Margarethe Kröber. Sie war über 300 Jahre zuvor gestorben und im November 1642 als Hexe verbrannt worden.

Noch Jahrzehnte später wurde ich von ihrer Geschichte heimgesucht und versuchte, mehr darüber zu erfahren.

Deutschland Winnigen Hexenverfolgung
Karin Helstaedt kehrte nach Winningen zurück, um mehr über das Schicksal ihrer Vorfahren zu erfahrenBild: Karin Helmstaedt/DW

"Ihr Fall ist besonders tragisch", sagte mir der Historiker Walter Rummel. Der unbestrittene Experte für dieses Thema in Winningen sagt, die Region sei einzigartig, weil die umfangreichen Aufzeichnungen über Hexenprozesse - über 8.000 Seiten - nicht nur sehr detailliert, sondern auch außerordentlich gut erhalten seien. Mithilfe von Querverweisen durch Steuerunterlagen, Kirchen- und Handelsregister geben sie Aufschluss darüber, wie die Bürger auf die Bedrohung durch angebliche Hexen in ihrer Mitte reagierten - und wie einige die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen wussten.

Ein komplexes Kapitel

Die europäischen Hexenverfolgungen sind ein kompliziertes Kapitel, das schwer zu durchschauen ist. Hinzu kommen Bilder aus Mythen und Märchen oder auch die neureligiöse Wicca-Bewegung, was die Gemengelage noch undurchsichtiger macht. Fest steht: Von den Brüdern Grimm bis zum Zauberer von Oz hat die Figur der Hexe in unseren Geschichten und unserem Unterbewusstsein einen festen Platz.

Märchenillustration: Hänsel und Gretel vor dem Haus der Hexe
In dem Märchen der Brüder Grimm werden Hänsel und Gretel von einer im Wald lebenden Hexe gefangen genommenBild: picture-alliance / akg-images

Doch jenseits der Bilder, die wir oft als historische Fakten wahrnehmen - zum Beispiel, dass Hexen im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, dass Hebammen oder rothaarige Frauen am ehesten zur Zielscheibe wurden, oder dass die Hexenjagd ein Instrument der patriarchal strukturierten Kirche war, um Frauen zu unterdrücken -, waren die Dinge weitaus komplexer. Im frühneuzeitlichen Europa trafen soziale, politische, religiöse und klimatische Umstände zusammen, die den Boden für drei Jahrhunderte Hexenverfolgung bereiteten.

Wolfgang Behringer, Experte für die Geschichte der Frühen Neuzeit, hat diese turbulente Zeit erforscht und festgestellt, dass die großen Hexenverfolgungswellen in Europa mit einer spürbaren Klimaverschlechterung zusammenhingen, die heute als Kleine Eiszeit (1306-1860) bezeichnet wird. Damals trat eine Häufung von Epidemien und Naturkatastrophen auf, welche die europäische Bevölkerung massiv belastete - und nach Erklärungen suchen ließ.

Hexenjad in den Dörfern

"Wenn wir davon ausgehen, dass Missernten eine große Rolle für den Wunsch nach Hexenjagden gespielt haben, dann stellen wir fest, dass die meisten Hexenjagden nicht von Staat oder Kirche, sondern von der Bevölkerung initiiert wurden", so Behringer, der die Hexenjagden als eine von Bürgern initiierte "Form des Protests" beschreibt.

Hexenverfolgung habe weniger mit Religion zu tun, als mit der Besiedlungsform, ergänzt Behringer: "In nomadischen Völkern gibt es so gut wie keine Hexenverfolgung, auch nicht bei spärlicher Besiedlung. Aber in einer dörflichen Struktur, wo man quasi aufeinander hockt, sich beobachtet und bei jedem Unglück misstrauisch wird, ist das wahrscheinlicher, weil es bei Hexenprozessen oft um den Lebensunterhalt geht."

Die Hexenfigur in der Nazi-Propaganda 

Aus der Sicht von Rita Voltmer, Historikerin und Autorin des 2008 erschienenen Buches "Hexen", wurde die Figur der Hexe von frühen Feministinnen wiederholt instrumentalisiert - und romantisiert -, zum Beispiel von Matilda Joslyn Gage. Sogar die Nazi-Propaganda unterstützte die These, dass die katholische Kirche treibende Kraft der Hexenverfolgungen war. 

"Sie alle waren Teil einer Bewegung, welche die Figur der weisen weiblichen Priesterin - mal keltischer, mal germanischer Herkunft - aufgriff und behauptete, dass diese blonden und rothaarigen Frauen, unsere Vorfahrinnen, vorsätzlich von der jüdisch beeinflussten christlichen Kirche verfolgt wurden, um die wahre germanische Rasse zu zerstören", sagt Voltmer.

Tödliche Gemengelage in Deutschland

Heute sind die Expertinnen und Experten sich weitgehend einig, dass rund 50.000-60.000 Menschen zwischen 1450 und 1789 in Europa durch Hexenverfolgung ums Leben kamen. Und obwohl es auch in anderen Ländern Hotspots gab, wurden bestürzenderweise fast die Hälfte - 25.000 Menschen - innerhalb der Grenzen des heutigen Deutschlands getötet. Davon waren 80 Prozent Frauen. Es gibt jedoch starke regionale Unterschiede: In Island, Russland oder der Region Normandie wurden hauptsächlich Männer wegen Hexerei angeklagt.

In Deutschland, beziehungsweise damals dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, waren Hexenverfolgungen legal, auf Grundlage der "Peinlichen Gerichtsordnung", die Karl V. 1532 erlassen hatte. Die sogenannte "Carolina" gilt als erstes allgemeines deutsches Strafgesetzbuch - und definierte Zauberei als ernstes Verbrechen. Auf dieser Grundlage konnten im ganzen Reich legal Anschuldigungen erhoben werden. Durch die zersplitterten Strukturen und den religiösen Druck sowie Konflikte im Schatten der beginnenden Reformation entstand auf dem deutschen Gebiet eine besonders tödliche Gemengelage.

Karin Helmstaedt und Walter Rummel lesen in einem Buch, im Hintergrund sind Bücherregale zu sehen.
Karin Helmstaedt und der Historiker Walter Rummel beim Studium der Hexenprozessakten im Staatsarchiv KoblenzBild: Manja Wolff

Anatomie eines Hexenprozesses

Nun zurück nach Winningen: Von den 24 hier der Hexerei angeklagten Menschen wurden 19 hingerichtet, zwei starben im Gefängnis, die restlichen drei konnten die Anklage entkräften und wurden freigesprochen. Meine Vorfahrin Margarethe kam aus einer gut situierten Familie. Sie hatte mit Zacharias Kröber einen Richter geheiratet, gehörte also zur dörflichen Elite. Schriftliche Quellen weisen darauf hin, dass sie eine rebellische Natur hatte. Die beiden waren acht Jahre verheiratet und hatten zwei Söhne, als sie der Hexerei bezichtigt wurde.

Wie sich herausstellte, war sie nicht die einzige in der Familie, die auf dem Scheiterhaufen landete. Margarethes eigene Mutter war tatsächlich die allererste Person, die in Winningen wegen Hexerei hingerichtet wurde. Später erlitten ihre Tante, Cousine und später alle ihre Schwägerinnen und auch ihr Schwager das gleiche Schicksal. Ein ganz eindeutiges Beispiel für eine Familie der Oberschicht, die Zielscheibe von Anschuldigungen wurde, recht typisch für diese Region. Doch Walter Rummel bestätigt, dass die systematische Zerstörung einer ganzen Generation von Kröbers schon außergewöhnlich ist. "Ein schlimmere Anschuldigung als Hexerei gab es nicht", so Rummel, "und ganz ähnlich wie bei einem Reaktorunfall wurden alle rundherum auch verstrahlt."

Eine Buch-Seite mit alter Handschrift
Auszug aus der Anklageschrift von Margarethe Kröber, 1642Bild: Karin Helmstaedt/DW

Durch die Protokolle der Hexenprozesse, alle in der verzierten Schrift des 17. Jahrhunderts, konnte ich rekonstruieren, dass ihr eine lange Liste von Schandtaten vorgeworfen wurde, darunter die Beteiligung an einem Hexensabbat, das Fliegen und die Vergiftung von Menschen. Margarethe war den Gerüchten über Jahre entkommen, doch dann wurde sie verhaftet, einer Leibesvisitation unterzogen, sie wurde komplett geschoren und verhört. Sie bestritt alle gegen sie vorgebrachten Vorwürfe, und appellierte an ihren Ehemann, für ihre Unschuld zu bürgen. 

Doch zu ihrem Entsetzen und - scheinbar um die eigene Position im Dorf zu schützen - ließ ihr Mann sie im Stich, mit der Behauptung, dass ihr Körper der Folter widerstehen werde, wenn sie eine aufrichtige Christin sei, und dass sie einfach gestehen solle, "denn du weißt, du bist eine Hexe".

Geständnis durch Folter

Um ihr "Geständnis" zu bekommen, wurde sie von der Hexenkommission gefoltert. Es ist unerträglich, die Aufzeichnungen zu lesen, ihr Schreien und Leiden - "clamat et torturam" - wird ausführlich wiedergegeben. Tragischerweise war ihr einziger Ausweg aus der Tortur eine Lüge - eine Todsünde zur Zeit des 17. Jahrhunderts.

Nach zwei Tagen der Qual gestand sie, eine Hexe zu sein, und unterschrieb damit ihr Todesurteil. Sie wurde auch gezwungen, eine weitere Frau der Hexerei zu beschuldigen, und so die Hexenverfolgungen weiter zu speisen. Weitere zwei Tage später wurde sie auf den Hinrichtungsplatz gezerrt und gezwungen, die Dorfleute um Vergebung zu bitten, die sich zu ihrer Hinrichtung versammelt hatten. So entlastet wurde ihr die "Gnade" eines Todes durch Enthauptung gewährt und dann ihr Körper verbrannt.

Die finale Abartigkeit kam in Form eines Fressgelages: Gemäß der Aufzeichnungen wurden 250 Liter Wein zur Hinrichtungsstätte gekarrt - das ganze Dorf machte sich mitschuldig, alle schlugen sich die Bäuche voll. Die Rechnung wurde Margarethes Ehemann überreicht.

Ein steinernes Denkmal mit den Namen von Frauen, die im 17. Jahrhundert Opfer von Hexenverfolgungen wurden.
Der "Hexenstein" in Winningen erinnert an die Opfer der Hexenprozesse im 17. Jahrhundert, darunter Margarethe KröberBild: Karin Helmstaedt/DW

Kurz und knapp: Macht, Geld, Neid und Niedertracht waren die Gründe für die Hexenverfolgungen, die in Winningen stets an die oberen Ränge gerichtet waren. Der letzte Hexenprozess in Winningen endete 1659 nicht mit einer Hinrichtung, da die Familien Geld sammelten, um gegen die Vorwürfe gezielt vorzugehen. Das war der Anfang vom Ende der Prozesse - die Leute zweifelten einfach, dass so viele der Hexerei schuldig sein könnten.

Die schlimmste Welle der Hexenverfolgung ebbte ab, als die zentralen Gesetze geändert wurden. Mit der Epoche der Aufklärung sollten Wissenschaft und Vernunft über Aberglaube gestellt werden. Es gab mehr Lebensmittel, und die Erfindung von Versicherungen führte schließlich dazu, dass die Menschen Katastrophen nicht mehr komplett schutzlos ausgeliefert waren. Die letzte Hexe wurde 1782 in der Schweiz enthauptet - und markierte das Ende dieses düsteren Kapitels europäischer Geschichte.

Adaption aus dem Englischen: Julia Hitz