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MusikEuropa

Warum Beethovens "Ode an die Freude" Europas Hymne ist

Anastassia Boutsko
7. Juni 2024

Seit 1972 dient das Finale der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven als offizielle Hymne Europas. Wie kam es zu dieser Wahl?

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Ludwig van Beethoven
Bild: Heinz-Dieter Falkenstein/Zoonar/picture alliance

Lebenslang plagte den großen Komponisten Ludwig van Beethoven (1770-1827) die Geldnot. Heute wäre er vermutlich ein durchaus wohlhabender Mann: allein die Tantiemen für seine Neunte Sinfonie, die bei der Premiere vor 200 Jahren als Wahnsinnstat eines ertaubten Komponisten daherkam, hätten ihn zu einem der reichsten Musiker der Welt gemacht.

Warum Beethovens "Ode an die Freude" zur Hymne der EU wurde

Ja allein das Finale, bekannt als "Ode an die Freude", hätte ausgereicht. Sogar nur die Melodie ohne Text – schließlich dienen jene knapp 50 Takte Musik seit 1972 als Hymne der Europäischen Union, einer Vereinigung von 27 Staaten mit fast 450 Millionen Einwohnern. Wohlgemerkt: ohne Text von Friedrich Schiller – im Europaparlament erklingt Beethovens Musik als eine Art "Lied ohne Worte".

Aber warum haben sich die Europäer der Nachkriegszeit ausgerechnet für Beethoven entschieden?

Warum Beethoven?

Die Genese liegt über ein halbes Jahrhundert zurück. Bereits Ende der 1960-er Jahre begab sich der Europarat erstmals auf die Suche nach einem musikalischen Sinnbild für ein zusammenwachsendes Europa.

Tausende junger Menschen vor der Frauenkirche in Dreden
Mai 2024 in Dresden: Tausende junge Europäer feiern die Europa-Hymne beim Jugendfest "Fête de l'Europe", mit dem französischen Präsidenten Macron und Bundespräsident SteinmeierBild: Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance

"Wir wissen, dass es noch vor der Europäischen Gemeinschaft eine paneuropäische Bewegung gab, wo Beethovens Musik immer wieder gespielt wurde", - erzählt Malte Boecker, Direktor des Beethoven-Hauses in Bonn. Damit stand Beethovens Stück  ganz oben auf der Auswahlliste. Doch ohne Diskussion ging es dann doch nicht: "Es gab schon Alternativen zu Beethoven, die man sich ernsthaft überlegte", weiß Malte Boecker.

Schnell war man sich einig, dass es nicht um eine zeitgenössische Komposition gehen könnte. Die Idee eines Wettbewerbs wurde verworfen, man suchte bei den "alten Meistern". In Frage kam etwa der in Halle geborene Wahl-Londoner Georg Friedrich Händel, oder aber der Franzose Marc-Antoine Charpentier. Ein Fragment aus seinem erhabenen "Te Deum" dient heute als ESC-Fanfare.

"Lied ohne Worte"

Den Zuschlag für die Hymne aber bekam Beethoven. "Mit Beethoven verbindet man eine europäische Persönlichkeit. Und mit seinem Werk etwas, das über einer rein nationalen Perspektive steht",  analysiert Malte Boecker die Gründe.

Malte Boecker, Direktor des Beethoven-Hauses Bonn
Malte Boecker sagt: "Beethoven wäre ein überzeugter Europäer"Bild: Henning Kaiser/dpa/picture alliance

Die Neunte Sinfonie sei, so Boecker, "das Wesen einer utopischen Musik. Einer Musik, die eine Vision formuliert, hinter der sich sehr viele vereinen können."

1985 wurde die Instrumentalversion von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft als offizielle Hymne der Europäischen Gemeinschaft angenommen. Sie ersetzt nicht die Nationalhymnen der Mitgliedstaaten, sondern ist Ausdruck der Werte – Freiheit, Frieden und Solidarität -, die alle Mitglieder teilen, und Ausdruck für das Europamotto "In Vielfalt geeint." Und zwar auch ohne Text – von dem nahm man zunächst Abstand.  

Beethovens Handschrift der neunten Sinfonie
Neunte Sinfonie: Diese Stelle wurde zur Europa-HymneBild: Andreas Altwein/dpa/picture alliance

Karajan als umstrittener Co-Autor

Aber allein mit dem Weglassen des Textes ist eine Hymne noch nicht geboren. Der majestätische vierte Satz der Neunten Sinfonie hat eine Länge von etwa 25 Minuten, ein symphonisches Gemälde mit Chor zum Schluss - und sowieso viel zu lang für offizielle Anlässe.

Die Aufgabe, Beethovens Musik für Staatsakte zu arrangieren, übernahm kein Geringer als der Dirigentenfürst Herbert von Karajan. Der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker prägte als eine der zentralen Figuren das Musikleben der Welt und trug den Spitznahmen "Musikdirektor Europas". Er suchte sich die Takte 140 bis 187 aus und arrangierte sie für Bläser.

Herbert von Karajan, 1967
Großer Musiker, umstrittene Persönlichkeit: Herbert von KarajanBild: Sven Simon/picture-alliance

Ludwig van Beethoven stand immer im Zentrum von Karajans Weltbild. Einer Anekdote nach mischte der Maestro aktiv mit, als die Konzerne Sony und Philips die Länge des neuen Medium CD festlegten: Karajan soll sich gewünscht haben, dass die Neunte Sinfonie komplett auf die silberne Scheibe passte. Man ging zunächst von der längsten Version aus – jener von Wilhelm Furtwängler, 74 Minuten. Karajan selbst kam mit 66 Minuten aus.

Irgendwann verschwand die Erwähnung des Namens Karajan von der offiziellen EU-Seite. Womöglich wollte die EU auf Abstand zu Karajan gehen, dessen Nazi-Vergangenheit zunehmend ins Blickfeld rückte. Auf jeden Fall wurden weitere Arrangements in Auftrag gegeben – unter anderem an den französischen Komponisten Christian Guyard.

Ludwig van Beethoven mit ungefähr Mitte Dreißig
Der Komponist lässt grüßen - jedes mal, wenn die Europa-Hymne erklingtBild: © Fine Art Images/Heritage Images/picture alliance

Beethoven als Europäer

Bleibt die Frage: Was hätte der Komponist, was hätte wohl Ludwig van Beethoven zur europäischen Idee gesagt, zu seiner Neunten als Hymne für ein vereintes Europa?

"Beethoven ist in einer Zeit groß geworden, in der das bürgerliche Zeitalter begonnen hat", analysiert Malte Boecker. "Er gehörte zu den Gründervätern der emanzipatorischen bürgerlichen Bewegung. In der heutigen Zeit wäre er ein überzeugter Europäer, definitiv!"

Und zu den Tantiemen hätte der Komponist bestimmt auch nicht Nein gesagt.