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PolitikTürkei

Warum Deutschtürken mehrheitlich Erdogan wählen

22. April 2023

In der Türkei wird es für Erdogan knapp, in Deutschland würde er jedoch gewinnen. Was steckt hinter seiner Beliebtheit unter den Deutschtürken?

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Erdogan-Anhänger in Köln halten türkische Fahnen und ein Bild des Staatspräsidenten
Erdogan-Anhänger in Köln, 2016Bild: picture alliance/dpa/H. Kaiser

Am 14. Mai werden nicht nur Türken in der Türkei, sondern auch türkische Staatsbürger auf der ganzen Welt ihren nächsten Präsidenten sowie ihr neues Parlament bestimmen. Ebenso in Deutschland, wo die größte türkische Diaspora lebt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zählte in seinem letzten Migrationsbericht - und der ist schon fünf Jahre her - rund 2,8 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. Etwa die Hälfte davon besitzt nach wie vor die türkische Staatsangehörigkeit.

Bereits vom 27. April bis zum 9. Mai können die Wähler in den 14 türkischen Auslandsvertretungen in Deutschland ihre Stimme abgeben. Generalkonsul Turhan Kaya sagte der DW, er könne zum Wahlprozess noch keine Einzelheiten nennen, weil das Genehmigungsverfahren bei den deutschen Behörden andauere.

Die Türkei-Wahl gilt als völlig offen: Diesmal könnte der langjährige Machthaber Präsident Recep Tayyip Erdogan tatsächlich verlieren. Sei Herausforderer ist Kemal Kilicdaroglu, ein Politiker der kemalistisch-laizistischen CHP, der von einem breiten Spektrum aus Politik und Gesellschaft unterstützt wird.

Erdogans starke Basis in Deutschland

Bei der Abstimmung in Deutschland können Erdogan und seine Partei AKP jedoch mit einem klaren Sieg rechnen.

Metin Sirin
Der Kölner Metin Sirin unterstützt ErdoganBild: privat

Metin Sirin lebt seit 43 Jahren in Köln. Er arbeitete vier Jahrzehnte lang in den Ford-Werken und war aktiver Gewerkschafter. Sirin wählte schon früher Erdogan und will es auch diesmal wieder tun, wie er der DW sagte: "In den letzten 20 Jahren ist meine Sympathie für die AKP immer größer geworden."

"Türkeistämmige in Deutschland wählen überproportional Erdogan. Das ist die Realität", erklärt Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) an der Uni Duisburg-Essen. Beim Verfassungsreferendum 2017 stimmten etwa 63 Prozent der Türken in Deutschland für Erdogans Vorhaben, während sein Erfolg in der Türkei nur bei knapp 51 Prozent lag. Durch das erfolgreiche Referendum wurde die Türkei von einem parlamentarischen System in ein Präsidialsystem umgewandelt. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 fielen 64,8 Prozent des deutschtürkischen Votums auf Erdogan, der in der Türkei mit 52,6 Prozent der Stimmen deutlich weniger Zustimmung erhielt.

Der Auslandstrend ist übrigens nicht überall so wie in Deutschland. Beispielsweise erzielte Erdogan 2018 in den USA nur 17 Prozent aller Stimmen, im Vereinigten Königreich 21, im Iran 35 und in Katar 29 Prozent.

Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan schwenken türkische Nationalflaggen
Erdogan-Anhänger in Deutschland versammelten sich 2015 in Karlsruhe vor der Wahl in der TürkeiBild: picture-alliance/dpa/U. Deck

Deutschtürkischer Wahlspagat

In Deutschland erntete das Wahlverhalten der Türken einige Kritik. Man warf den Deutschtürken unter anderem Widersprüchlichkeit vor: Wie könne man hierzulande die Sozialdemokraten oder die Grünen wählen, in der Türkei aber die islamisch-konservative AKP?

Für Metin Sirin ist das eine ganz rationale Wahlentscheidung, ja sogar ein Zeichen dafür, wie offen die konservativen türkischen Wähler in Deutschland für Abwechslung und wie wenig fanatisch sie seien: "Menschen wählen natürlich die Partei, die ihre Interessen vertritt. Das muss man positiv sehen."

Yunus Ulusoy
Yunus UlusoyBild: privat

Das werten politische Beobachter ganz ähnlich. "Natürlich schaut man auch als Ausländer, welche Partei einem nah ist. Früher war die Frage: Die CDU oder die SPD? Damals waren die Türken vor allem Arbeiter und die SPD mit ihrer internationalen Orientierung stand auch den konservativen Türken näher als die konservative CDU", analysiert Integrationsforscher Ulusoy.

Faszination Türkei

Die ersten Türken, die nach Deutschland kamen, waren überwiegend Menschen aus dem ländlich-konservativen Anatolien. "Wenn Menschen auswandern, entwickeln sie die Werte weiter, die sie mitbringen. Ihre konservativ-religiösen Verortungen werden gerade in der Diaspora noch einmal konserviert", erklärt Ulusoy.

Ein wichtiger Faktor für die Entscheidung des AKP-Wählers Sirin ist die Entwicklung der Türkei unter Erdogans Führung. In so unterschiedlichen Bereichen wie Gesundheit, Verkehr oder Verteidigung mache ihn die Entwicklung seines Heimatlandes sehr glücklich. Er vergleicht die heutige Türkei mit dem damaligen Deutschland: "Als wir hierher kamen, waren wir fasziniert von Deutschland. Die Behörden, die Krankenhäuser, die Autobahnen waren wirklich erstaunlich. Es tat uns immer wieder leid, dass wir in der Türkei nichts Ähnliches sehen konnten. In den letzten 20 Jahren sehen wir allerdings, dass unsere Krankenhäuser und Autobahnen dem Weltstandard entsprechen."

Auch die konsularischen Dienstleistungen sowie die Rechte für Auslandstürken hätten sich in der Erdogan-Zeit wesentlich verbessert, erklärt Sirin. Das bedeute den Auslandstürken sehr viel. Er nennt zum Beispiel den Wehrdienst, aus dem man sich "freikaufen" könne. "Das ist eine große Errungenschaft, die der AKP zu verdanken ist. Deswegen haben sie meine Unterstützung." Außerdem dürfen Türken seit 2014 auch in Auslandsvertretungen der Türkei wählen, was früher nicht möglich war.

Dämonisierung versus Zugehörigkeit

Viele Deutsche versuchten gar nicht erst, die Wahlentscheidung der konservativen Türken zu verstehen, kritisiert Ulusoy. Man könne dieses Wahlverhalten "ideologisch beurteilen oder skandalisieren", aber auch versuchen zu verstehen, was die Wähler umtreibt. 

Drei junge Männer tragen die türkische Fahne in einer Pro-Erdogan-Demonstration in Köln, 2016
Viele junge Deutschtürken identifizieren sich mit ErdoganBild: picture alliance/dpa/H. Kaiser

Hinzu komme die Fokussierung der deutschen Öffentlichkeit auf die Türken, beobachtet der Integrationsforscher. "Gibt es nur die Deutschtürken, die in ihrem Heimatland wählen? Natürlich nicht. Auslandsitaliener haben auch Wahlrecht. In Italien kam eine rechtspopulistische Regierung an die Macht und keiner weiß, wie die Italiener in Deutschland wählten. Keiner interessierte sich dafür."

Erdogan scheint eine Lücke zu füllen, die der deutsche Staat offen lässt: "Die Politik tut sich nach 60 Jahren immer noch schwer, sich eindeutig zu diesen Menschen zu bekennen und ihnen zu sagen: 'Ihr gehört zu diesem Land, unabhängig davon, ob ihr BioNTech-Gründer seid oder womöglich als Jugendliche bei Silvester irgendwelche Krawalle begonnen habt. Selbst wenn ihr Fehltritte gemacht habt, gehört ihr zu uns.' Genau das sagt aber Erdogan: 'Egal wo ihr seid, egal welche Staatsangehörigkeit ihr habt, ihr gehört zu uns.'"

Sabrina Mayer
Sabrina MayerBild: DW

Die Soziologin Dr. Sabrina Mayer sieht das ähnlich. "Erdogan hatte es leicht, Teile der türkeistämmigen Menschen anzusprechen, die sich danach sehnten, aufgrund ihrer türkischen Herkunft wertgeschätzt zu werden", sagt die Professorin der Universität Bamberg im DW-Gespräch. Durch die Politik der Bundesregierung konnte für die Deutschtürken "kein Gefühl entstehen, zur deutschen Gesellschaft zu gehören". Dr. Mayer verweist darauf, dass die Einbürgerung für Türkeistämmige lange Zeit nicht vereinfacht wurde, im Gegensatz zu anderen Einwanderergruppen wie etwa bei den Russlanddeutschen. Diese erhalten nach Artikel 116 des Grundgesetzes als aus Russland und Nachfolgestaaten der Sowjetunion zugezogene Deutsche mit weniger Aufwand die deutsche Staatsbürgerschaft.

Wahlverhalten und Trotz

"Solche Faktoren führen dazu, dass gerade junge Menschen in der dritten Generation auch aus Trotz Erdogan wählen", so Ulusoy. Der Kölner AKP-Wähler Metin Sirin bestätigt dies: "In den letzten Jahren wurden konservative Menschen wegen Erdogan von den deutschen politischen Parteien ausgegrenzt. Das ist eine sehr traurige Entwicklung. Diese Ausgrenzung löste natürlich eine Reaktion aus. Menschen fingen irgendwann an, gerade deshalb Erdogan zu unterstützen."

Egal wie die Wahl am 14. Mai ausgeht,nutzt der Kölner Sirin sein Wahlrecht und die Tatsache, politisch vertreten zu sein: "Obwohl ich seit 43 Jahren in Deutschland lebe, darf ich hier nicht einmal bei Kommunalwahlen meine Stimme abgeben. Das ist eine Ausgrenzung und macht mich traurig. Die Türkei gibt uns aber das Recht, zu wählen. Ich bin stolz darauf, dass ich für unsere Bürger etwas mitbestimmen darf."

DW Mitarbeiter l Burak Ünveren, DW-Journalist
Burak Ünveren Redakteur. Themenschwerpunkte: Türkische Außenpolitik, Deutsch-Türkische Beziehungen.