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PolitikEuropa

Warum droht Erdogan der NATO mit Veto?

18. Mai 2022

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan äußert sich kritisch über den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden und droht der Allianz sogar mit einem Veto. Was steckt dahinter?

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Ukraine-Konflikt
Bild: Olivier Matthys/AP/dpa/picture alliance

In Krisenzeiten erwartet man in der NATO Geschlossenheit und Solidarität von Partnern. Auch dieses Mal ist das der Fall. Alle Allianzmitglieder machen mit, nur einer nicht: der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.

Während der Westen Putin geschlossen die Stirn bieten will, erhebt der türkische Staatspräsident derzeit Einwände gegen den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden. Er droht dem Militärbündnis sogar mit einem Veto.

"Wir sehen es nicht positiv", sagte Erdogan am vergangenen Freitag. Finnland und Schweden seien Gasthäuser für Terroristen. Das waren kalkulierte Botschaften, die er nach dem Freitagsgebet vor einer Moschee sowohl an seine Anhänger als auch an den Westen sandte.

Danach schickte er seinen Außenminister Mevlüt Cavusoglu nach Berlin zum informellen Treffen der NATO-Außenminister, während die türkischen Tageszeitungen die Stimmung weiter anheizten: "Finnland und Schweden in Panik", "Präsident Erdogans Veto in der Weltpresse", "Angst in der NATO", so titelten die regierungstreuen Blätter.

Seitdem unterfüttern sie die Behauptungen Erdogans mit Artikeln, warum Ankara eigentlich gegen den NATO-Beitritt von Skandinaviern sei. Finnland und Schweden seien Brutstätten für Terroristen, pflegten Kontakte zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, der Kurdenmiliz YPG in Syrien und den Anhängern des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Letztere vermutet Erdogan hinter dem Putschversuch von 2016.

Der US-Außenminister Blinken und der NATO-Generalsekretär Stoltenberg beim Treffen der NATO-Außenminister in Brüssel.
Der US-Außenminister Blinken und der NATO-Generalsekretär Stoltenberg beim Treffen der NATO-Außenminister in Brüssel.Bild: Francois Walschaerts/AFP/Getty Images

Außerdem berichten türkische Medien, dass die Türkei in den letzten Jahren Anträge zur Auslieferung von "33 PKK- und Gülen-Terroristen" an Finnland und Schweden eingereicht habe, bisher erfolglos.

Erdogans Berater verbreitet Zuversicht

Dann kam am Samstag die optimistische Erklärung von Erdogans Berater Ibrahim Kalin. Die Türkei habe die Türen für die Mitgliedschaft der Skandinavier nicht zugeschlagen. Aber es gehe um die nationale Sicherheit der Türkei. Und es gebe Handlungsbedarf. Daraufhin äußerten sich US-Außenminister Blinken und NATO-Generalsekretär Stoltenberg auch zuversichtlich.

Diese Zuversicht verschwand am Sonntag mit der Pressekonferenz des türkischen Außenministers Cavusoglu, der den entscheidenden Satz sagte, der verriet, worum es tatsächlich geht: "Diese zwei (Finnland und Schweden) und andere NATO-Mitglieder, die Kontakt zur PKK und YPG pflegen und diese unterstützen, und Exportbeschränkungen für Rüstungsgüter an die Türkei verhängen, sie sollten damit aufhören." Cavusoglu unterstrich mehrmals, dass Finnland und Schweden keine Rüstungsgüter in die Türkei exportieren. Ansonsten sei sein Land eigentlich nicht gegen die NATO-Erweiterung.

Was will die AKP-Regierung wirklich?

Es geht also darum, die NATO-Mitglieder sowie Finnland und Schweden zu Zugeständnissen zu zwingen. Auf diese Weise will Erdogan innenpolitisch punkten.

Denn die Türkei steckt in einer sehr schweren Wirtschaftskrise. Die Jahresinflation lag im April bei 69,97 Prozent. Das Handelsbilanzdefizit kletterte zuletzt auf 24,5 Milliarden Dollar. Die Bevölkerung leidet unter der Teuerungsspirale. Die Zustimmungswerte von Erdogan sinken. Mit nationalistischen Tönen kann er seine Anhänger wieder hinter sich sammeln. Angriffe auf den Westen, Finnland und Schweden kommen bei der islamistisch-nationalistischen Klientel stets gut an. 

Und diese Klientel braucht Erdogan spätestens im Superwahljahr 2023. Dann feiert die Türkei nicht nur das 100. Gründungsjubiläum der türkischen Republik. Im Land finden auch Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt, die Erdogan beide gewinnen will. Derzeit verliert er aber in der Wählergunst, vor allem wegen der extremen Inflation. Er braucht also Erfolge und muss punkten.

Daher sieht Erdogan in den Beitrittsplänen von Finnland und Schweden die Gunst der Stunde. Mit dem Ukraine-Krieg gewann sein Land am Schwarzen Meer wieder an Bedeutung. Besuche von UN-Generalsekretär António Guterres, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen oder Bundeskanzler Olaf Scholz gehören mittlerweile ebenso zum Tagesgeschäft wie Telefonate mit Brüssel und Washington.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu in Berlin
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu in BerlinBild: Bernd von Jutrczenka/AP Photo/picture alliance

Also will Erdogan den Preis in die Höhe treiben. Er wünscht sich, dass die Exportbeschränkungen für Rüstungsgüter wieder gelockert werden. Nach dem Einmarsch der türkischen Armee in Nordsyrien 2019 kündigten Finnland, Schweden, Deutschland und weitere europäische Länder an, vorerst keine Waffen mehr in die Türkei zu exportieren, die in Syrien eingesetzt werden könnten.

Auch das Mitmischen Ankaras in Libyen und Berg-Karabach sorgte für Verstimmungen in Europa. Nach den Gasbohrungen im Mittelmeer kamen auch Bedenken für Rüstungsgüter im maritimen Bereich dazu.

Einen Schlag kassierte Ankara auch aus Washington. Nachdem die Türkei das russische Flugabwehrsystem S-400 gekauft hatte, wurde sie von den USA aus dem Programm für Kampfjets F-35 ausgeschlossen. Nun hofft Ankara auf Zugeständnisse seitens der USA, und signalisiert, sich sogar mit der Auslieferung von F-16 zufrieden zu geben. 

Erdogan sitzt derzeit an einem politischen Hebel, den er genüsslich einsetzt. Seit Tagen erinnert er die türkische Öffentlichkeit an die Wiederaufnahme Griechenlands in die NATO 1980. Denselben Fehler wie damals werde sein Land nicht noch einmal machen. Damals habe man der Wiederaufnahme Griechenlands ins Militärbündnis bedingungslos zugestimmt, das werde nicht nochmal passieren, verspricht er.

Nach dem Einmarsch türkischer Truppen auf Zypern 1974 war Athen aus der NATO ausgetreten. Erst nach sechs Jahren wollte das Land ihr wieder beitreten und brauchte dafür die Zustimmung der Türkei. Damals habe die Türkei dem Druck nachgegeben, dies sei einer der größten Fehler der jüngsten Vergangenheit - so ist die herrschende Meinung in Ankara.

Was sind die Bedingungen der Türkei?

Wie die Bedingungen Ankaras für den Beitritt von Schweden und Finnland aussehen, wurde bisher nicht offiziell vorgestellt. Nach Äußerungen aus der türkischen Regierung könnten es Erklärungen von Finnland und Schweden zum Kampf gegen PKK, YPG und Gülenisten sein, sowie Zugeständnisse bei den Exportbeschränkungen für Rüstungsgüter.

Daria Isachenko
Daria IsachenkoBild: SWP

Für die Türkei-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Dr. Daria Isachenko, ist die Haltung der Türkei keine Überraschung. Die erfahrene Wissenschaftlerin beobachtet Ankara seit Jahren und stellt fest, dass die Türkei die Erweiterung der NATO grundsätzlich unterstützt und sich nicht nur im Fall der Ukraine und Georgiens, sondern auch bei der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien sehr engagiert hat. 

Aber die Türkei habe eben auch eine lange Liste mit Anliegen, die sie bei Gelegenheit abarbeitet, meint die Expertin. Sie erinnert daran, dass die Terror-Karte nicht zum ersten Mal gezogen wurde. 2020 habe Ankara den Verteidigungsplan der NATO für Polen und die baltischen Staaten blockiert, auch damals wegen der mutmaßlichen Unterstützung für PKK und YPG. Jetzt sehe man wieder die Chance, einiges von der Liste wegzubekommen, so Isachenko. Darunter seien die Anschaffung und Modernisierung von F-16-Kampfjets aus den USA und die Aufhebung der Sanktionen im Verteidigungssektor der Türkei.

Aber auch an Deutschland stellt die Türkei seit einigen Jahren Forderungen. Berlin liefere keine Rüstungsgüter mehr in die Türkei. Es ist sogar von einem "verschleierten Waffenembargo" die Rede. Die Erklärungsversuche der damaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, des früheren Außenministers Heiko Maas oder von Olaf Scholz, dass Deutschland eine restriktive Exportpolitik für Rüstungsgüter führe, haben Ankara nicht beeindruckt. Auch beim Besuch des Bundeskanzlers in Ankara Mitte März kam das Thema zum wiederholten Mal zur Sprache.

Wie weit die Türkei bei diesem Konflikt mit den Drohungen gegen die Partner gehen will und zu welchen Zugeständnissen die Mitglieder der NATO, Finnland und Schweden bereit wären, ist derzeit unklar. Die Verhandlungsbereitschaft der türkischen Seite und die Zuversicht der Bündnismitglieder deuten darauf hin, dass Verhandlungen hinter verschlossen Türen bereits begonnen haben. Ob tatsächlich wie auf einem türkischen Basar gefeilscht wird, wie der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn andeutete, ist derzeit ungewiss.

Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas