Warum Latein in der Schule nicht aussterben sollte
28. Juli 2023Kompetenz in Fremdsprachen wird in einer globalisierten Welt immer wichtiger und auch selbstverständlicher. Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen wählen auch heute oft noch Latein, eine "tote" Sprache, die niemand mehr spricht, bei der es also keine "native speakers" gibt.
Allerdings sinkt das Interesse an Latein bundesweit. Lernten 2008 in ganz Deutschland noch mehr als 830.000 Jugendliche Latein in der Schule, so waren es 2021/22 nur noch 539.000 von 8,44 Millionen. Das sind 6,4 Prozent der Schüler in Deutschland. Zum Vergleich: Französisch lernen bundesweit rund 1,5 Millionen Schüler.
Professor Stefan Freund ist Vorsitzender des Deutschen Altphilologenverbandes (DAV), des Fachverbandes für Latein und Griechisch an Schulen und Universitäten, und lehrt Latein an der Bergischen Universität Wuppertal.
DW: Ist Latein eine "tote" Sprache?
Stefan Freund: Latein ist ein lebendiger Blick in die Vergangenheit und ins Funktionieren von Sprache.
DW: Was spricht dafür, heute noch Latein zu lernen?
Der Lateinunterricht vermittelt Meta-Kompetenzen, die lebenslang auf den Umgang mit und das Erlernen von anderen Fremdsprachen angewandt werden können, und in der Sache nicht veralten. Während beim Unterricht in modernen Fremdsprachen die Kommunikation im Mittelpunkt steht, ist es im Lateinunterricht die Sprachreflexion: Wie unterscheidet sich Latein von Deutsch? Wie funktioniert ein Satz? Wie werden Wörter verändert und bestimmte Aussagen in bestimmten Situationen formuliert?
Und natürlich ist Latein die gemeinsame Mutter der romanischen Sprachfamilie (Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Rumänisch) und Ursprung zahlreicher englischer Wörter (language, computer, artificial intelligence …).
Wählen Schülerinnen und Schüler Latein statt z.B. Französisch oder Spanisch auf Drängen der Eltern, oder weil sie schon ein bestimmtes Studienfach im Blick haben?
Über die Beweggründe der Schülerinnen und Schüler kann man nur mutmaßen. Vier Punkte dürften relevant sein: ein allgemeines Interesse für Geschichte und Mythologie und ein Zugang zu Sprache eher über Reflexion und Analyse als über unmittelbare Kommunikation. Dazu eine Studien- oder Berufsperspektive, für die Latein nützlich erscheint - und die durchschnittlich recht jungen Lehrkräfte, die wissen, wie kritisch Öffentlichkeit, Eltern und Schülerschaft ihr Fach sehen und daher sehr großen Wert auf einen ansprechenden Unterricht legen, der nichts mit dem selektiven Drill aus den Klischeebildern zu tun hat.
Für welche Studiengänge und Berufe in Deutschland ist Latein nützlich bzw. sogar Voraussetzung?
Wofür Latein vorausgesetzt wird, variiert; tendenziell geschieht das seltener. Nützlich ist es jedenfalls für viele Fächer: Geschichte, Philosophie, Theologie, Romanistik, Jura (Römisches Recht), Medizin (Medizingeschichte, Terminologie), Pharmazie (Terminologie), Sprachwissenschaft, alle (Teil-)Disziplinen, die sich (auch) mit der Zeit vor ca. 1750 und dem europäischen Raum beschäftigen: Musikgeschichte, Kunstgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Kirchengeschichte, Lokalgeschichte …
Wann hat Latein an Bedeutung eingebüßt?
Bis ins 18. Jahrhundert hinein ist Latein die häufigste Sprache, in der neu erschienene Bücher gedruckt werden. Riesige Wissensbestände zu allen möglichen Fragen sind nur mit Lateinkenntnissen zugänglich, da nur ein winziger Teil dieser neulateinischen Text übersetzt ist.
Die Fragen stellte: Dagmar Breitenbach
Noch mehr Inhalte über Deutsche und ihre Traditionen, ihre Alltagskultur und Sprache finden Sie auf YouTube und unserer Seite www.dw.com/MeettheGermans_de.