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Warum Märchen heute boomen

Christine Lehnen
4. Januar 2022

In Dänemark wurde das Hans Christian Andersen-Museum neu eröffnet, weltweit stürmen Märchen die Kinokassen und Bestsellerlisten. Warum wir heute so märchenhungrig sind.

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Dänemark Odense | Hans Christian Andersen Museum
"Die Prinzessin auf der Erbse" ist eines der bekanntesten Märchen, hier als Museums-MotivBild: Ritzau Scanpix/AFP/Getty Images

Noch vor sieben Jahre stand an der malerischen Straßenecke in der dänischen Kleinstadt Odense nur ein unscheinbares, einstöckiges gelbes Haus: das Geburtshaus eines der berühmtesten Märchenautoren der Welt, Hans Christian Andersen. Vor über 200 Jahren, im Jahr 1805, wurde Andersen in Odense in die Armut hineingeboren. Als Sohn eines frühverstorbenen Schusters und einer Wäscherin, die weder lesen noch schreiben konnte, war sein Aufstieg zum Weltstar der Märchenerzählenden nicht vorherzusehen.

Heute kennt jedes Kind seine Geschichten - vom "Hässlichen Entlein" über "Des Kaisers Neue Kleider" bis hin zur "Schneekönigin", der zuletzt von der Walt Disney Corporation in zwei Animationsfilmen unter dem Titel "Die Eiskönigin" (Englisch: "Frozen") zu weltweitem kommerziellen Ruhm verholfen wurde.

Das neue Andersen-Museum in Odense

Hans Christian Andersens Geburtshaus in Odense liegt inzwischen in einem wohlhabenden Viertel und dient seit 1930 als Museum. Aber seit 2014 hat es sich grundlegend verändert: Um- und neugebaut vom japanischen Architekten Kengo Kuma, dessen Büro sich auch für das neue Olympiastadion in Tokio verantwortlich zeigte, ist das historische "H. C. Andersens Hus" seit 2021 der Eingang in eine ober- und unterirdische Märchenwelt. Ein großzügiger neuer Museumsbau und -garten sind hinzugefügt worden, in den Ausstellungsräumen über und unter der Erde können die Gäste in die geliebten Geschichten aus der Kindheit eintauchen. "Wir hatten das Gefühl, dass die Gäste im alten Museum noch etwas mehr wollten als ein traditionelles Geburtshaus-Museum", erklärt die Museumsmitarbeiterin Lone Weidemann. "Die Menschen wollten seine Märchen, denn das ist das, was sie kennen. Sie brauchen seine Fantasie und Inspiration für ihren Alltag."

Gibt es einen "Märchen-Boom"?

Man könnte aktuell von einem "Märchen-Boom" sprechen: Zahllose Filme, Videospiele und Romane sind in den letzten Jahren erschienen, die bekannte Märchen der europäischen Märchenerzähler aus dem 19. Jahrhundert neu erzählen. In Disneys "Maleficient" (2014) wurde die "Böse Fee" aus dem Grimmschen Märchen "Dornröschen" auf einmal zur Heldin, dargestellt von Hollywoodstar Angelina Jolie. Die japanisch-amerikanische Autorin Elizabeth Lim kombinierte in "Six Crimson Cranes" (2021) das Andersen-Märchen "Die Wilden Schwäne" mit ostasiatischen Märchenmotiven und erschuf einen US-amerikanischen Bestseller. Auch in Deutschland erklimmen Neuerzählungen bekannter Stoffe regelmäßig die Bestsellerlisten, so zum Beispiel die Romane der Autorin Christina Henry.

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

"Boom" sei aber der falsche Ausdruck, so der deutsche Autor, Herausgeber und Märchenexperte Christian Handel im Telefongespräch mit der DW. Denn: "Märchen gehen nie weg." Schon die uns so bekannten europäischen Märchen wie "Schneewittchen" der Gebrüder Grimm, "Aschenputtel" von Charles Perrault oder "Die Prinzessin auf der Erbse" von Hans Christian Andersen beruhen auf viel älteren Quellen und Motiven, erklärt Handel - die meisten davon übrigens schriftlich. Der Mythos, dass die Gebrüder Grimm alte "deutsche" Volksmärchen, die vor allen Dingen mündlich überliefert wurden, gesammelt und aufgeschrieben hätten, ist eben das: ein Mythos.

Der Mythos vom "Volksmärchen"

"Sie haben ihre Märchen nach außen hin als etwas anderes verkauft als das, was sie wirklich waren", erklärt Handel. Viele ihrer Quellen seien schriftlich gewesen - und vor allen Dingen internationaler Herkunft. Ein besonders eindeutiges Beispiel ist das Märchen vom "Gestiefelten Kater", das laut Handel "praktisch 1:1" aus dem Französischen stamme. Kassel, wo die Gebrüder Grimm arbeiteten, stand zu ihren Lebzeiten unter französischer Besatzung.

Ein Kronleuchter ist falschherum durch ein gebrochenes Glas im Museum zu sehen.
Am neuen Hans Christian Andersen-Museum haben 12 Künstlerinnen und Künstler mitgewirkt.Bild: Laerke Beck Johansen/H.C. Andersen House

Auch Andersen, der sogenannte "Kunstmärchen" schrieb, also nicht vorgab, dass seine Geschichten aus volkstümlichen Quellen stammten, bediente sich kulturell vielfältigen sowie älteren Stoffen und Motiven, gestaltete sie um und passte sie an die Werte seiner Zeit an. "Der Held oder die Heldin ist der gottesfürchtige Brave, der dann belohnt wird", fasst Handel die Werteanpassung zusammen, die Autoren wie die Brüder Grimm oder Hans Christian Andersen an den alten Stoffen im 19. Jahrhundert vornahmen. "Der Witz dabei ist, dass die alten Stoffe gar keine christlichen Märchen waren, sie sind bloß dazu umgeformt worden."

Diese Vielfalt der Quellen und Motive sei den meisten heute nicht bewusst, erklärt Handel: "Wenn wir heute Schneewittchen lesen, denken wir, wir wissen schon, wie die Geschichte geht. Den meisten ist gar nicht bewusst, dass es weltweit ganz verschiedene Versionen von und Quellen für dieses Märchen gibt."

Eine Märchenwelt fürs 21. Jahrhundert

Es sei genau dieser internationale Aspekt, der im Zentrum des aktuellen Märchenbooms stünde, erklärt Christian Handel - und der die neuen Märchenerzählungen heute zu einer kontroversen kulturellen Kraft mache. "Die Erzählenden, die Märchen heute neuinterpretierten, tun dasselbe, was Andersen und die Grimms getan haben: Sie gestalten Stoffe um, um sie ihren Werten anzupassen." Dabei geht es heute vor allen Dingen darum, sich weg vom Mythos des nationalen "Volksmärchens" zu bewegen und stattdessen die interkulturelle, internationale Dimension der Motive und Stoffe in den Vordergrund zu rücken, so Handel.

Außerdem berichtet Handel, dass in vielen modernen Märchenumschreibungen wieder Figuren in den Mittelpunkt gerückt werden, die nicht weiß oder männlich sind: Mächtige Frauen wie Elsa aus "Frozen" (2013), eine schwarze und lesbische Jugendliche in Kalynn Bayrons Roman "Cinderella is Dead" (2020) oder auch ein schwules Prinzenpaar, wie in Handels eigenem Roman "Rowan und Ash" (2020).

Schattenspiele eines Waldes und von Häusern werden in einem Museumsraum an die Wand geworfen. In der Mitte befindet sich eine Wendeltreppe
Ein Raum mit Scherenschnitten im Hans-Christian-Andersen-Museum, entworfen von Kengo Kuma Bild: Kengo Kuma & Associates

Dagegen formiert sich, insbesondere in den sozialen Netzwerken, auch Widerstand, berichtet Handel. Als die Walt Disney Corporation ankündigte, "Arielle, die Meerjungfrau" mit einer schwarzen Schauspielerin besetzen zu wollen, wurden sie auf Twitter Opfer eines Shitstorms von Menschen, die sich nicht vorstellen konnten, dass eine Meerjungfrau auch schwarz sein könne.

Märchen bringen Hoffnung

Denn der Reiz von Märchen speise sich daraus, so erläutert Handel, dass sie so vertraut seien. Deshalb könne es auch zu Abwehrreaktionen führen, wenn man die Stoffe verändere. Genau diese Veränderung und Anpassungen an einen modernen Wertekanon seien aber unabdingbar für das Überleben der Märchen. Wenn die Neuerzählungen also kontrovers sind, dann weil sie abbilden, dass sich die Werte in der Gesellschaft verändert wandeln. Daher rühre möglicherweise auch der zeitgenössische "Märchen-Hunger": Neue Werte verlangen neue Geschichten.

Diese Wandlungsfähigkeit sei ein Grund, warum Märchen überdauern, so Christian Handel. Zwei weitere Gründe kommen hinzu: "Märchen zeigen ganz klar, dass du selber etwas an deinem Schicksal ändern kannst. In fast allen Märchen muss die Heldin oder der Held in irgendeiner Weise aktiv werden, damit sich das Schicksal ändert." Und, so fügt er hinzu: "Ich glaube, Märchen überdauern, weil sie in den meisten Fällen Hoffnung geben. Sie enthalten oft einen Moment des Wunderbaren und tragen die Hoffnung in sich, dass etwas Besseres kommen wird."