Pop 2011: ein Jahresrückblick
29. Dezember 2011Wenn die Zeiten härter werden, werden die Melodien schöner. So könnte man das Popjahr 2011 zusammenfassen. Natürlich gab es auch in diesem Jahr harte Clubsounds und Indie-Bands, und auch das Wacken Open Air war mal wieder das größte Heavy Metal Festival der Welt, doch die wirklich großen Erfolge im Mainstream kamen von Künstlern wie Adele oder Bruno Mars. Beide versorgten die Fans, und das waren Millionen, mit Liedern, die immer ein bisschen traurig klingen und deren Melodien sich in die Gehörgänge eingraben. Das gilt eigentlich ebenso für Lady Gaga, die jenseits ihres schrägen Auftretens auch nichts weiter tut als Lieder mit schönen Melodien zu singen.
Dass all diese Popsongs ziemlich gut zusammenpassen bewies gerade der Künstler Mashup Germany mit seinem Track "Top of the Pops 2011 (What the Fuck)", in dem er 29 Hits des Jahres 2011 in einem Party Beat vereint.
Berühmt aus Versehen
Etwa 200 Millionen Mal wurde es in verschiedenen Versionen abgerufen: das wohl erfolgreichste Musikvideo des Jahres 2011. Im Radio lief der Song eigentlich gar nicht, und CDs wurden auch nicht verkauft. Doch "Friday" von der inzwischen 14-jährigen US-Amerikanerin Rebecca Black ist die absolute Nr. 1 unter den YouTube-Aufrufen im vergangenen Jahr. Und das nicht etwa, weil die Menschen den Song lieben oder die Sängerin ein großes Charisma hätte. Nein, die Zuschauer sind sich da ziemlich einig, weil es das schlechteste Video des Jahres war.
So etwas nennt man Erfolg im Jahre 2011. Und während die guten alten Musikkonzerne alle Hände voll damit zu tun haben, Videos ihrer Künstler auf YouTube zu sperren, macht der Mutterkonzern Google den Riesenreibach mit Werbeeinnahmen.
Der alte Mann kann’s immer noch
Dass man mit Udo Lindenberg, dem Urgestein der deutschsprachigen Rockmusik, noch zu rechnen hat, weiß man spätestens seit seinem Comeback vor drei Jahren. Auch 2011 war wahrlich ein Erfolgsjahr für das lebende Denkmal des Deutschpop.
Anfang des Jahres lief sein Musical, von Kritik und Publikum hoch gelobt, drei Monate lang in Berlin, und mit dem Album "MTV Unplugged - Live aus dem Hotel Atlantik" zeigte Udo im September, dass auch seine alten Songs immer noch frisch klingen können. Unterstützt von zahlreichen Gästen aus der deutschen Popszene zeigte sich der 65-Jährige auf der Höhe seines Schaffens. Zusammen mit dem Rapper Clueso brachte er dann auch noch den fast 40 Jahre alten Song "Cello" wieder erfolgreich ins Radio.
Die Welt retten und im Groove bleiben
Die Pop-Entdeckung des Jahres kommt aus Berlin. Tim Bendzko lieferte mit "Nur noch kurz die Welt retten" den ultimativen deutschsprachigen Sommerhit. Bendzko, der sowohl Theologie studierte als auch schon gebrauchte Autos verkaufte, gehört seit 2011 zu den deutschen Popstars.
Ein bisschen klingt er schon nach Xavier Naidoo, doch seine Texte sind eher hintergründig ironisch als pathetisch religiös, und einen guten Groove zu haben ist in jedem Fall nicht verkehrt. Tim Bendzko hat alles erreicht, was in so kurzer Zeit möglich ist. Den Sommer über klang er aus allen Radios, dann gewann er den Bundes Vision Song Contest, einen Bambi und die Radio Eins Live-Krone. Bleibt zu hoffen, dass dem 26-Jährigen noch genug Ideen einfallen, um ein zweites Album zu füllen.
Auch der ESC ist Pop
Die Zeiten, da der Eurovision Song Contest merkwürdige, weltentrückte Schlager präsentierte, gehören längst der Vergangenheit an, doch dass der Wettbewerb, die Vorauswahl und die Geschichten drum herum zum Pop-Mainstream avancierten, ist eigentlich erst so, seit Lena Meyer-Landrut 2010 den "Grand Prix" für Deutschland gewann. Schlager und Schnulzen gab es im ESC auch dieses Jahr noch reichlich, doch Popsongs von internationalem Format dominierten, und manche Teilnehmerländer boten wirklich Originelles. Dass Lena nicht noch einmal gewinnen würde, war abzusehen, aber das Image des Eurovision Song Contest als peinliche Veranstaltung für Selbstquäler ist endgültig aus der Welt.
Ein Liedermacher als Radiomann
Gleich zwei Jubiläen konnte Bob Dylan, der größte Liedermacher und Poet der Popgeschichte, in diesem Jahr feiern: Am 24. Mai wurde er 70 Jahre alt, und seit 50 Jahren steht er auf der Bühne. Seine Karriere war mehr als wechselvoll. Dylan wurde von der Bühne gejagt, als er als erster die elektrische Gitarre in der Folk-Musik benutzte; er schrieb Protestsongs, wollte aber mit aktueller Tagespolitik nichts zu tun haben, und er verschreckte seine Fans, indem er sie zeitweise auf den Konzerten zu seiner Variante des Christentums bekehren wollte. Gleichzeitig schrieb er immer wieder große Songs, die in die Musikgeschichte eingingen und für die man ihn 2011 sogar für den Literaturnobelpreis nominiert hat.
Seit 1988 ist Dylan mit seiner Band auf der "Never Ending Tour" und spielt Konzerte, bei denen immer wieder Überraschendes passiert. Neben alledem hat er sich in den letzten Jahren einen Ruf als Radiomoderator gemacht: In seinen Sendungen präsentiert er amerikanische Folk- und Bluesklassiker.
Bob Dylan ist 70 und noch lange nicht am Ende. Ob man das auch noch im nächsten Jahr wird sagen können, wenn die Rolling Stones ihr 50-jähriges Bühnenjubiläum feiern, bleibt abzuwarten.
Das jüngste Mitglied im Club 27
Ob es nun ein urbaner Mythos ist oder nicht: Jimi Hendrix, Kurt Cobain, Janis Joplin und noch andere Musiker starben im Alter von 27 Jahren. Auch Amy Winehouse war 27 Jahre alt, als sie am 23. Juli tot in ihrem Bett aufgefunden wurde. Spätestens seit dem Album "Back to Black" war klar, dass Winehouse zu den wirklich Großen in der Soulmusik gehörte. Ihr Erfolg trat sogar ein Revival für handgemachten Soul und R&B los.
Doch die Britin mit der unvergleichlichen Stimme produzierte in den letzten drei Jahren so viele Skandale und hatte so viele drogenbedingte Konzertausfälle, dass eine Fortsetzung der Karriere auf hohem Niveau unwahrscheinlich schien. Ihr Tod kam kaum überraschend.
Ein früher Tod, das weiß man spätestens seit dem Dahinscheiden des Schauspielers James Dean in den fünfziger Jahren, wirkt Karriere fördernd und lässt die Umsätze in die Höhe schnellen. Trotzdem: Amy Winehouse, die sich im Soul ebenso zuhause fühlte wie in Jazz und Bossanova, war eine große Interpretin, und ihre Stimme fehlt in der Szene. Die derzeit allenthalben gehypte Lana Del Rey wirkt dagegen wie ein müder Abklatsch.
Die barfüßige Diva
Spät hat sie der Ruhm erreicht, die barfüßige Diva von den Kapverden. Cesária Evora musste 45 Jahre alt werden, bevor ihre internationale Karriere begann. Sängerin war sie schon immer, doch sang sie in den Bars und Spelunken ihrer kapverdischen Heimatstadt Mindelo, bis einer ihrer Songs, ihr Hit "Sodade", einen portugiesischen Musikmanager zum Weinen brachte.
Diese Sehnsucht, die so typisch ist für die Morna, den kapverdischen Blues, war seit Mitte der 80er Jahre Evoras Markenzeichen. So gefühlvoll präsentierte die Grande Dame ihre Lieder, dass die Menschen in Massen in ihre Konzerte strömten. Im September hatte sie angekündigt, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auftreten zu können, im Dezember starb Cesária Evora im Alter von 70 Jahren.
Autor: Matthias Klaus
Redaktion: Suzanne Cords