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Politik

Was man zu New START wissen sollte

22. Juni 2020

Die USA und Russland verhandeln in Wien über das letzte noch gültige Abkommen zur Begrenzung von Atomwaffen. Trotz Drängens der USA bleibt China fern. Die wichtigsten Fragen - und Antworten.

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Atomtest auf dem Mururoa-Atoll
Bild: picture-alliance/dpa

Die symbolische Weltuntergangsuhr des amerikanischen Bulletin of the Atomic Scientists ist Anfang des Jahres noch einmal nach vorne gerückt: Nur noch 100 Sekunden trennen die Welt nach Ansicht der Wissenschaftler von der Vernichtung. Vor 10 Jahren waren es noch 6 Minuten. Diese Zuspitzung hat viel mit der Beendigung, Nichtverlängerung und Aushöhlung wichtiger Abkommen zur Kontrolle von Nuklearwaffen zu tun. Jetzt steht das letzte derzeit noch gültige Abkommen zur Begrenzung von Atomwaffen auf dem Spiel: New START. Im Februar nächsten Jahres läuft es aus – wenn es nicht verlängert wird. Über diese Verlängerung und mögliche Bedingungen dazu verhandeln die Vertragspartner USA und Russland jetzt in Wien (ab 22.06.). Die Gespräche sind belastet durch die amerikanische Forderung, China in die nukleare Rüstungskontrolle einzubeziehen. Sowohl Peking als auch Moskau lehnen das ab.

USA Doomsday Clock in Washington
Die Zeit auf der Weltuntergangsuhr läuft abBild: picture-alliance/newscom/K. Cedeno

Worum geht es?

New START (kurz für: Strategic Arms Reduction Treaty) regelt seit 2011 die Begrenzung der strategischen Kernwaffen zwischen Russland und den USA. Beide Staaten verpflichteten sich beginnend mit dem Jahr 2011 ihre strategischen nuklearen Gefechtsköpfe bis 2018 auf je 1.550 zu begrenzen. Die Trägersysteme sollten auf maximal je 800 reduziert werden. Träger sind ballistische Interkontinentalraketen mit Reichweiten über 5.500 Kilometer, U-Boot-gestützte Raketen und strategische Bomber.

Zum Stichtag 5. Februar 2018 hatten beide Seiten Sprengköpfe und Trägersysteme bis unter die vertraglich festgesetzten Obergrenzen reduziert. Überprüft wird der Abrüstungsvertrag durch bis zu 18 Überprüfungsbesuche im Jahr und einen regelmäßigen Datenaustausch vor.

Unterzeichnet wurde das Abkommen am 8. April 2010 von den damaligen Präsidenten der USA und Russlands, Dimitri Medwedjew und Barack Obama. Das Abkommen läuft 2021 aus, kann aber auf Wunsch beider Seiten um maximal weitere fünf Jahre verlängert werden.

Sollte New Start tatsächlich ohne Verlängerung auslaufen, stünde die Welt zum ersten Mal seit knapp 50 Jahren ohne eine vertraglich bindende Begrenzung der beiden größten Atomarsenale der Welt da.

U.S. Air Force - B-52 und F-16
Die B-52 Bomber der USA - hier über der Ostsee - können mit ihrer tödlichen Fracht jeden Ort der Erde erreichenBild: picture alliance/Newscom/U.S. Air Force/Senior Airman Erin Babis

Was sind die Positionen?

Moskau hat bereits frühzeitig seine Bereitschaft erklärt, New START zu verlängern. Washington aber fordert, China in die Verhandlungen und letztendlich in die nukleare Rüstungskontrolle einzubeziehen.

Tatsächlich baut China sein Atomwaffenarsenal zielstrebig aus, ist aber noch weit von der Schlagkraft sowohl Russlands als auch der USA entfernt. Insgesamt besitzen die USA und Russland nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI jeweils rund 6.000 Atomsprengköpfe. China verfügt über geschätzt gut 300 – genaue Zahlen gibt es nicht, Peking verweigert hier jede Transparenz. Dennoch argumentiert Washington, man könne nicht sinnvoll ohne China über Rüstungskontrolle sprechen. In einer Rede vor dem konservativen Hudson Institute am 21. May zitierte Billingslea den Chef des amerikanischen Militärgeheimdienstes DIA, dass "China im Zuge der schnellsten Ausweitung seines Nukleararsenals die Zahl seiner Atomwaffen mindestens verdoppeln wird". 

Sollte es ein nukleares Wettrüsten geben, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters den US-Unterhändler, seien die USA bereit, Russland und China in die Bedeutungslosigkeit zu rüsten. 
Moskau wiederum betont, über eine Verlängerung von New START könnten nur die Vertragsparteien USA und Russland vereinbaren. Wenn Washington mit China über Rüstungskontrolle verhandeln wolle, müsse das bilateral geschehen. Daneben verweist Moskau auch auf die französischen und britischen Atomwaffen – rund 500 Sprengköpfe – die dann auch Gegenstand einer Vereinbarung sein müssten.

Wo steht Peking?

China lehnt unter Verweis auf sein – noch – deutlich geringeres Nuklearwaffenpotenzial eine Teilnahme an den New START Gesprächen kategorisch ab. Die Besitzer der weltgrößten Atomwaffenarsenale hätten eine besondere Verantwortung für nukleare Abrüstung, bekräftigte Außenamtssprecherin Hua Chunying am 11. Juni mit Blick auf Russland und die USA. Zugleich betonte die Sprecherin die prinzipielle Bereitschaft, sich an den "globalen Anstrengungen zu nuklearer Abrüstung zu beteiligen". Dass die nicht vorankämen, sei die Schuld Washingtons.

Großes Aufsehen hatte allerdings ein Kommentar des Chefredakteurs der chinesischen "Global Times" Anfang Mai erregt. Da hatte Hu Xijin gefordert, China müsse zügig die Zahl seiner Atomsprengköpfe auf 1000 erhöhen. Dazu sollten auch 100 Interkontinentalraketen des Typs DF-41 gehören, die jeden Punkt in den USA erreichen können.


Hu Xijins Post dazu in chinesischen sozialen Medien bekam Zehntausende von likes. Wegen der Nähe der Global Times zu Chinas KP findet sich der Kommentar des Chefredakteurs auch in den Argumenten von US-Sonderbotschafter Billingslea.

Was wollen die Europäer?

In den Hauptstädten Europas herrscht Einigkeit: New START sollte verlängert werden. Schon im Februar forderte Bundesaußenminister Heiko Maas in einer Rede vor dem UN-Weltsicherheitsrat Russland und die USA auf, "Führungsstärke zu zeigen und den New-Start-Vertrag zu verlängern". Die zerfallende Rüstungskontrollarchitektur müsse gemeinsam bewahrt und reformiert werden, mahnte Maas. Da New START ohnehin spätestens 2026 ausläuft, verstehen die Europäer nicht, wieso man dieses Element funktionierender Rüstungskontrolle ohne Not aufgeben sollte. Die Zwischenzeit ließe sich ja nutzen, um multilaterale Abkommen zu entwickeln.

New York | UN-Sicherheitsrat zu Krieg in Syrien | Heiko Mass, deutscher Außenminister
Heiko Maas vor dem WeltsicherheitsratBild: Getty Images/AFP/T.A. Clary

Was ist der Kontext?

Es gibt weltweit neun Staaten mit Nuklearwaffen. Nach Angaben von SIPRI verfügten die  Anfang 2020 über insgesamt 13.400 nukleare Sprengköpfe. Über 90% davon entfallen auf die USA und Russland. Gegenüber den knapp 70.000 Sprengköpfen aus der Zeit des Kalten Krieges in den 1980er Jahren ist das gerade mal ein Fünftel.

Allerdings ging die zahlenmäßige Abrüstung mit einer technologischen Aufrüstung einher. Heutige Atomwaffen sind deutlich zielgenauer. Sprengkraft geht vor schiere Menge. Vor zwei Jahren wurde in den USA die "Nuclear Posture Review" beschlossen. Darin ist klar von der Rückkehr der Großmächtekonkurrenz die Rede. Neue Technologien machen auch den begrenzten Einsatz von "Mini-Nukes" auf dem Gefechtsfeld möglich.

SIPRI beobachtet in seinem am 15. Juni veröffentlichten Jahrbuch, sowohl Russland als auch die USA unterhielten "teure und umfangreiche Programme zum Ersetzen und Modernisieren ihrer nuklearen Sprengköpfe" und der Trägersysteme. Beide Staaten würden zudem in ihren "Militärdoktrinen Atomwaffen neue oder erweiterte Rollen" zukommen lassen. Das markiere "eine signifikante Abkehr des Trends zur graduellen Marginalisierung von Nuklearwaffen nach dem Ende des Kalten Krieges", warnen die SIPRI Autoren.

Russland testet Überschallrakete Avangard
Simulation einer russischen Überschallrakete, mit denen die Vorwarnzeit drastisch verkürzt würdeBild: picture-alliance/AP/RU-RTR

Seit 1970 haben Moskau und Washington dem wahnwitzigen Rüstungswettlauf mit rund einem halben Dutzend Verträgen Grenzen gesetzt, Abrüstung eingeleitet und eine umfassende Rüstungskontrollarchitektur aufgebaut.

Bereits Mitte 2002 kündigten die USA einseitig den ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen. Im vergangenen Jahr stieg Washington aus dem Vertrag über das Verbot bodengestützter Mittelstreckenraketen, INF, aus. Im Mai kündigte das Weiße Haus an, sich aus dem "Open Skies" Vertreg zurückzuziehen. Der ermöglichte gegenseitige Aufklärungsflüge nach nur kurzer Vorwarnzeit unter dem Motto "Ein offener Himel von Vancouver bis Wladiwostok".

New START ist der letzte, wankende Pfeiler dieser Architektur.

Erinnerungen an den Kalten Krieg

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein