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Was treibt Grass an?

Jochen Kürten6. Juni 2012

Warum äußert sich Günter Grass immer wieder zu politischen Themen? Und weshalb eckt er damit immer an? Ein Gespräch mit Volker Neuhaus, Herausgeber der Werke des Dichters und Grass-Biograf.

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Guenter Grass liest 2011 in Hamburg (Foto: Axel Heimken/dapd)
Bild: dapd

Immer wieder mischt sich der deutsche Nobelpreisträger Günter Grass ein - mit Stellungnahmen zu politischen und gesellschaftlichen Geschehnissen. Das tut er manchmal ganz direkt - in Interviews - und manchmal auch literarisch - mit Lyrik. Oft greift Grass dabei - nach Meinung vieler Leser - sogenannte "Tabu"-Themen auf. Nicht selten führen diese Einlassungen zu heftigen Kontroversen. Was steckt dahinter? Handelt es sich hier um die wirren Kommentare eines greisen Schriftstellers, wie einige Feuilletonisten höhnen, oder sind die Äußerungen von Günter Grass lediglich "ganz normale" Gedanken eines prominenten Schriftstellers? Fragen an Volker Neuhaus, den Herausgeber der Werke von Günter Grass. Er schreibt gerade an einer umfassenden Biografie über den Nobelpreisträger, die im Herbst erscheint.

Deutsche Welle: Herr Neuhaus, seit vielen Jahren geben Sie das Werk von Günter Grass heraus. Sie kennen den Nobelpreisträger recht gut. Wie bewerten Sie den medialen Rummel um die beiden Gedichte von Günter Grass zu aktuellen politischen Geschehnissen aus der jüngsten Zeit?

Volker Neuhaus: …als sehr eigentümlich. Das Eigentümlichste ist doch, dass nach seinem zweiten Gedicht (dem zu Pfingsten erschienenen Griechenland-Gedicht in der Süddeutschen Zeitung) gefragt wurde, 'Warum macht der das?' Ich glaube, es ist noch nie bei einem Lyriker auf der Welt gefragt worden, warum er ein Gedicht veröffentlicht. Grass ist nun mal in der glücklichen Lage, dass er seine Gedichte an sehr sichtbarer Stelle veröffentlichen kann. Er ist von Beruf Lyriker und veröffentlicht seine Gedichte. Über den Inhalt kann man dann streiten. Das ist ja auch gemacht worden. Aber in dieser Form ist das doch schon sehr, sehr eigentümlich.

"Ein völlig unabhängiger Mann"

Wenn man hinter die Kulissen blickt, was bleiben für Erklärungen für die große Aufregung?

…weil Günter Grass eine ganz außergewöhnliche Position einnimmt. Die will man ihm immer nehmen, was man aber nicht kann. Grass kann man keinen Dienstwagen wegnehmen. Ihm kann man nicht einen Ehrensold wegnehmen. Ihm kann man nicht das Büro wegnehmen. All das hat er sich selber erarbeitet. Jetzt sagt man immer, er soll den Nobelpreis zurückgeben, das ist das einzige, was er machen kann...oder die Ehrenmitgliedschaft im PEN. Grass ist das seltene Beispiel eines völlig unabhängigen und trotzdem prominenten Mannes. Und das hat er alleine sich zu verdanken, er muss auf keinen Rücksicht nehmen. Dadurch eckt er bisweilen an.

Und dann hat er wohl ganz besondere "Feinde" bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das hat sich in den vergangenen Jahren hochgeschaukelt. Was vermuten Sie dahinter?

Günter Grass und der schwedische König Carl XVI Gustaf bei der Nobelpreisvergabe (Foto: ddp images/AP Photo/Tobias Rostlund, Pool).
Hat er den Nobelpreis verdient? Manche Kritiker meinen, er soll ihn zurückgeben...Bild: AP

Ich weiß es nicht. 'Debunking' nennt man das… einen Großen vom Sockel holen und ihn damit klein und handlich machen… Grass hat eine Größe erreicht, die man im Grunde nicht anfechten kann. Wieso bei der FAZ der Hass auf Grass, man kann es nicht anders sagen, erblich ist, dass der Hass sich über jeweilige Literaturchefs vererbt, und die bei allen Verschiedenheiten, allen unterschiedlich gewachsenen Generationszugehörigkeiten, immer auf Grass eindreschen, das ist schon eigentümlich.

Ein streitbarer Humanist

Titel von FAZ und SPIEGEL (Foto: Ulrich Perrey dpa/lno)
Gehen wenig freundlich mit Grass um: FAZ und SpiegelBild: picture-alliance/dpa

Schauen wir noch mal auf den Menschen und Schriftsteller Günter Grass. Ein Kritiker hat mal geschrieben: Er steht in der europäischen Tradition aufgeklärter Streitbarkeit des Humanismus, er ist ein Einmischer. Sehen Sie das auch so?

Ja, das ist schön ausgedrückt. Er nutzt seine Prominenz, um seiner Meinung Gehör zu verschaffen. Was wir ja alle tun. Die Leute gehen ja sogar zum Stammtisch, um da ihre Meinung kundzutun, und die hören dann eben nur ihre Stammtischbrüder. Grass ist in der Lage, seine Meinung zu artikulieren, sie so zu artikulieren, dass sie auch gehört wird. Das erste Gedicht (das Israel-Gedicht) sollte ja zuerst in der ZEIT erscheinen, da haben die Herausgeber NEIN gesagt, und noch am selben Tag ist es dann in der Süddeutschen Zeitung erschienen. Das ist der Glücksfall für ihn.

Es gibt ja im Grunde genommen immer zwei Vorwürfe gegen ihn. Der eine richtet sich gegen fachliche Argumente. Eine Zeitung schrieb: "Grass Begründungen decken sich nicht einmal ansatzweise mit gängigen und verbreiteten Erkenntnissen nicht nur der wissenschaftlichen, sondern auch der journalistischen Fachdiskussion." Das geht also in die Richtung, er habe den Israel-Iran-Konflikt eigentlich gar nicht verstanden…

Das beruht auf einem Missverständnis…Nach meiner festen Überzeugung gehen die ersten beiden Strophen des Israel-Gedichtes gar nicht gegen Israel. Der Name Israel fällt erst in der dritten Strophe. Die ersten beiden Strophen gehen eindeutig in Richtung der USA. Dort hat es Planspiele gegeben, ob Atomkriege führbar sind. Das spricht er an. Israel hat dort nur die Rolle, Pendant zum Iran zu sein. Es geht um die beiden Atommächte im Nahen Osten. Aber: Das entscheidende ist, dass Grass in der Lage ist, eine eigene Meinung zu vertreten, und die ist sehr geschlossen und sehr dezidiert. Er ist schon sehr informiert und wäre in der Lage jede Diskussion zu führen. Er beteiligt sich ja auch an öffentlichen Diskussionen. Er ist geradezu außergewöhnlich gut informiert.

Der zweite Vorwurf geht in die Richtung "mangelnde lyrische Qualität". Und damit verbunden die Frage, ob solche Gedichte die richtige Form für eine derartige Meinungsäußerung sind.

Günter Grass (r) bei einem Treffen mit dem israelischen Ministerpräsidenten Levi Eschkol (Foto: dpa)
Frühes Interesse an Israel: Günter Grass mit Ministerpräsidenten Levi Eschkol in den 60er Jahren.Bild: picture-alliance/dpa

Ein Gedicht ist, was als Gedicht gedruckt wird. Eine Kollegin von mir hat auch mal nachgewiesen, dass Grass' Gedicht auch durchaus rhythmisch gestaltet ist  - wir reden jetzt vom ersten Gedicht. In einer öffentlichen Diskussion (in Osnabrück) waren wir uns – auch der Gegner auf dem Podium – einig darüber, dass, wenn Grass das in einem Interview statt in einem Gedicht gesagt hätte, es nicht eine solche Wirkung erzielt hätte. Ein Gedicht hat was Statuarisches, hat etwas Abgeschlossenes, hat etwas Apodiktisches, hat etwas Monumentales. Das hat er zunächst so in dem ersten Gedicht gemacht zum Thema USA/Israel/Iran. Und dann hat er das - man kann das raffiniert nennen -, noch einmal gemacht. Er hat ein wunderschönes, hymnisches Gedicht geschrieben, was auch inhaltlich zum Thema Griechenland passte und in der Hölderlin-Tradition stand, mit feierlichen Sprüngen und Schwüngen. Ausgerechnet zum Thema Griechenland! Also, er kann schon auf der Klaviatur der Lyrik spielen, auf der er seit über 60 Jahren spielt, das merkt man…

Nach dem ersten Gedicht haben viele angemerkt, er habe bei diesem Thema das Volk auf seiner Seite, die vielen, vielen Leserbriefe zeigten das. Das ging also in die Richtung, hier vertrete einer die Meinung der Mehrheit - im Gegensatz zum Feuilleton. Beim Griechenland-Gedicht kann man Grass das nicht nachsagen…

Ja, er hat daran erinnert, dass es doch mal wirklich an der Zeit sei, an die Wurzeln der Wertegemeinschaft zu erinnern. Dass die Europäische Union nicht nur ein gemeinsamer Markt ist, sondern in der Tradition einer abendländischen Wertegemeinschaft steht.