WChUTEMAS: Bauhaus aus Moskau
17. Dezember 2014Einen neuen Menschen und eine neue Gesellschaft formen: Die 1920er Jahre waren eine Zeit, in der die Kunst das bewerkstelligen sollte. In Europa eiferte man dem von Walter Gropius gegründeten Bauhaus nach. Aber auch in der Sowjetunion glaubten Intellektuelle, Künstler und Architekten in ihrer nachrevolutionären Euphorie an diese Utopie. Sowohl dort als auch in Deutschland entstanden die ersten Bildungseinrichtungen, die die Avantgarde in der Kunst und vor allem in der Architektur vorantrieben: Im Jahr 1919 wurde in Weimar das Staatliche Bauhaus ins Leben gerufen, ein Jahr später gründeten sich in Moskau die Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten - die "WChUTEMAS".
Oft werden die beiden Schulen miteinander verglichen. "Russisches Bauhaus", wie die WChUTEMAS oftmals bezeichnet werden, hat in der Tat einiges mit dem Bauhaus in Deutschland gemeinsam, insbesondere die Herangehensweise in der Lehre und das Kunstverständnis. Eine Zusammenarbeit gab es auch: In den Jahren 1927 und 1928 besuchten sich die Studierenden und tauschten sich gegenseitig aus. Anfang der 1930er Jahre wurden sowohl WChUTEMAS als auch das Bauhaus geschlossen.
Nun findet im Berliner Martin-Gropius-Bau die Ausstellung "WChUTEMAS. Ein russisches Labor der Moderne. Architekturentwürfe 1920-1930" statt. Die Kuratoren scheuen sich aber davor, ein Gleichheitszeichen zwischen die Hochschulen zu setzen. Denn neben Gemeinsamkeiten gab es auch zahlreiche Unterschiede.
"Einhundert Gropius"
In den WChUTEMAS, die durch ein Dekret der Sowjetregierung eröffnet wurden, konnte jeder studieren, auch ohne spezielle Vorkenntnisse. Das wirkte sich auf die Anmeldungen aus: Allein im ersten Jahr gab es 2000 Studierende, im Staatlichen Bauhaus waren es rund 150. An acht Fakultäten konnten sich die Studierenden mit Malerei, Skulptur, Textil, Druckgrafik, Keramik, Holz und Metallverarbeitung befassen. Während im Staatlichen Bauhaus die industrielle Formgestaltung die Hauptrolle spielte, wurde in den russischen Werkstätten der Schwerpunkt auf die Fachrichtung Architektur gelegt.
Die Studierenden hatten die Freiheit, selbst zu entscheiden, bei welcher Dozentin oder welchem Dozenten sie ihr jeweils ausgewähltes Fach belegen wollten. Diese Entscheidung war nicht einfach. Während im Staatlichen Bauhaus der Gründer Walter Gropius im Kreise seiner Anhänger der Ideengeber war, gab es in den WChUTEMAS "hundert Gropius", so Gereon Sievernich, Direktor des Martin-Gropius-Baus: Etwa Architekten wie Alexei Schtschussew, Nikolai Ladowski und Konstantin Melnikow oder die Maler Kasimir Malewitsch, El Lissitzky und Wassily Kandinsky, der später im Staatlichen Bauhaus im Geiste der WChUTEMAS unterrichtete.
Schüler, die ihre Lehrer übertreffen
Die Lehre in den WChUTEMAS basierte auf dem so genannten "synthetischen Prinzip", demzufolge es sowohl handwerkliche als auch künstlerische Tätigkeiten zu beherrschen galt. Die Studierenden begannen mit abstrakten Kompositionen, um Konzepte von Raum, Form und Gewicht analysieren zu lernen. Danach bekamen sie Aufgaben aus der Praxis und sollten Zeitungskioske, Wassertürme oder Gemeinschaftshäuser entwickeln.
Die studentischen Entwürfe waren manchmal so extravagant, dass sie innerhalb der Geschichte der Avantgarde genau so bekannt wurden wie Projekte von den Dozentinnen und Dozenten. Nach der Verteidigung der Diplomarbeit durch Iwan Leonidow beispielsweise, der das Lenin-Institut für Bibliothekwissenschaften in Moskau entwarf, erhoben sich die Lehrenden von ihren Sitzen, um ihm ihren Respekt zu zollen: Der Schüler hätte seine Lehrer übertroffen.
WChUTEMAS - eine Lehre für die Zukunft?
Trotz des Erfolges konnten die "hundert Gropius" aber keine gemeinsame Sprache finden: Jeder neue Rektor, insgesamt waren es drei, änderte die Politik der Bildungseinrichtung radikal – die Strukturen, das Lehrpersonal und die Ziele. Im Jahr 1930 wurden die WChUTEMAS im Zuge einer weiteren Bildungsreform aufgelöst.
Die Werkstätten wurden geschlossen und gerieten über die Jahrzehnte in Vergessenheit. Die Avantgarde wurde durch den sogenannten "sozialistischen Realismus" ersetzt. Trotz ihrer bedeutenden Rolle für die Entwicklung der Kunst und Architektur in Russland und in ganz Europa wurden die WChUTEMAS im Gegensatz zum Bauhaus keine weltberühmte Einrichtung. Kunsthistoriker vermuten, dass sich dies noch ändern wird: Die Zeit, in der die Errungenschaften der WChUTEMAS gewürdigt werden, solle noch kommen. Die Ausstellung in Berlin, die in Zusammenarbeit mit dem Moskauer Staatlichen Schtschussew Museum für Architektur organisiert wurde, ist noch bis zum 6. April 2015 zu sehen.