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GesellschaftDeutschland

"Vielleicht erleben wir, dass weniger mehr sein kann"

15. Dezember 2020

Pfarrer Jo Römelt ist ganz nah an den Menschen, die vor Weihnachten die Corona-Krise durchleben. Im DW-Interview spricht er über ungewöhnliche Gemeindearbeit, Corona-Leugner und neue Chancen, die genutzt werden sollten.

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Deutschland Solingen | Evangelischer Pfarrer | Jo Römelt
Gottesdienst in der Dorper Kirche im AdventBild: Medana Weident/DW

DW: Weihnachtsgottesdienste unter den aktuellen Bedingungen zu gestalten, ist gar nicht so einfach. Welche Lösung hat die evangelische Dorper Kirche gefunden?

Jo Römelt: Normalerweise haben wir sechs Gottesdienste am Heiligen Abend, verteilt auf die Dorper Kirche und das Gemeindezentrum "Arche". Nach langer Überlegung haben wir entschieden, dieses Jahr nichts drinnen zu machen. Wir gehen nach draußen und teilen den Gottesdienst mit seinen Elementen auf Stationen auf, die man in kleinen Gruppen abgehen kann. An den Stationen werden wir die Weihnachtsgeschichte hören, Gedanken dazu, wir werden in die Maske ein, zwei Weihnachtslieder hineinsummen, wir werden beten. Es ist erstens sicherer und es können mehr Menschen daran teilnehmen als zurzeit in der Kirche. Darüber hinaus haben wir Online-Angebote über YouTube. Wir werden einen kompletten Gottesdienst vorher aufnehmen, wir bereiten auch ein Kindermusical und ein Krippenspiel vor. Vielleicht sind wir da draußen, auf dem Weg, dem eigentlichen Weihnachten viel näher als sonst in den gemütlichen, geheizten Kirchen. Das ursprüngliche Weihnachten war ja nicht idyllisch, das war ein Weg, den Menschen unfreiwillig gegangen sind, von Nazareth nach Bethlehem, ohne ein Dach über dem Kopf. Vielleicht wird das ein ganz eigenes, neues Erlebnis.

Wir blicken zurück auf ein außergewöhnliches Jahr. Ostern war es sogar noch schwieriger, da die Kirchen geschlossen waren. Wie haben Sie es erlebt?

Es war ein ganz ungewöhnliches Jahr, mit einer Menge Schatten, aber auch einigen Lichtseiten. Ich habe bei mir selber gemerkt, wie der Lockdown und jetzt gerade die zweite Welle in manchen Phasen doch aufs Gemüt schlägt, obwohl ich ein Mensch bin, der gesund geblieben ist, der wirtschaftlich keine Einbußen hinnehmen musste, der in vieler Hinsicht sich glücklich und privilegiert schätzen kann. Es ist wie eine dunkle Wolke, die über uns steht – ich merke das auch in den Gesprächen mit Menschen. Dazu kommen die Diskussionen, ob die Maßnahmen zu Corona nicht völlig übertrieben seien – da wird ja auch jetzt noch demonstriert, obwohl so viele Menschen am Tag sterben. Auch diese Debatten habe ich als sehr anstrengend und sehr emotional erlebt. Ich freue mich auf die Zeit, in der wir alle entspannter werden, nah sein und fröhlich feiern können. Auf der anderen Seite erlebe ich ganz viel Positives. Ich habe gesehen, wie viel Kreativität plötzlich da war, um neue Ideen zu entwickeln. Wie viele bereit waren, sich um andere zu kümmern, Hilfe anzubieten: einkaufen zu gehen, Masken zu nähen, zu fragen, was brauchst du. Das gleiche passierte in der Gemeinde, als wir angefangen haben, die Gottesdienste zu übertragen. Viele haben sich bereit erklärt, sich in die Technik einzuarbeiten.

Sie beziehen sich in Ihrer Predigt oft auf politische und soziale Themen. So letztens, als Sie die Corona-Leugner erwähnten. Wie stehen Sie dazu?

Ich glaube, da muss man sehr differenzieren. Es gibt sehr verschiedene Menschen. Menschen, die jetzt auf den Demonstrationen sind, die unter den Maßnahmen leiden – wirtschaftlich, persönlich, wie auch immer – und von daher protestieren. Für die habe ich etliches an Verständnis und bin sehr dafür, dass die Möglichkeit der Demonstration besteht. Wenn aber Menschen behaupten, es sei nur halb so schlimm, es sei nur Grippe, oder es existiere eigentlich gar nicht, dann kann ich nur sagen: Leute, guckt euch an, was jetzt passiert. Gott sei Dank ist Corona nicht so tödlich wie Ebola, woran jeder zweite Mensch, der infiziert ist, stirbt. Aber 400 Menschen, die jeden Tag sterben, ist erschreckend genug. Guckt euch an, unter welcher Last das Pflegepersonal leidet. Stellt euch vor, irgendwann müssen die Krankenhäuser dicht machen und können Patienten mit unterschiedlichsten schweren Erkrankungen überhaupt nicht mehr reinlassen, weil es die Kapazitäten nicht gibt. Für mich ist COVID-19 eine ernstzunehmende schwere Erkrankung. Und ich kann da nur widersprechen, wenn es heißt: Corona-Fehlalarm.

Obwohl Gottesdienste wieder möglich sind – mit eingeschränkter Teilnehmerzahl und Maske  – gibt es auch viele Online-Angebote. Wie war diese Erfahrung für Sie?

Viele Menschen sind dankbar, dass sie die Gottesdienste auf YouTube sehen können. Wir merken auch an den Klickzahlen, dass dieses Angebot wahrgenommen wird. Die ersten Gottesdienste sind von über 1000 Menschen angeklickt worden. Jetzt sind wir immer noch bei 300 bis 400. Es ist eine tolle Möglichkeit, die über Corona hinaus Bestand haben wird. Was mich nur bedrückt, ist, dass die Älteren oft diese Möglichkeit nicht haben, weil sie eben mit dem Internet nicht vertraut sind. Aber es wird auch diesbezüglich einen Schub geben. In zehn Jahren werden wir fast alle älteren Menschen auch über Internet erreichen. Da bin ich mir ganz sicher. Wenn man es richtig einsetzt und nutzt, kann das Internet ein Segen sein.

Medienerfahrung haben Sie ja bereits. Ihr erster Rundfunkgottesdienst wurde 2010 von der DW ausgestrahlt.

Das war eine aufregende Geschichte. Ich habe die Predigt als Dialog formuliert zwischen einem Landwirt und Jesus über das Wachstum auf verschiedenen Böden, wie Saatgut in der Seele aufgehen kann oder eben nicht. Es kam ein riesiger Funkwagen – heute sind die viel kleiner – und dafür mussten die Auffahrt zur Kirche und der Parkplatz eisfrei gemacht werden. Die Winter waren damals noch kalt und schneereich. Es gab eine Menge positiver Reaktionen auf diesen Gottesdienst, ein Anruf kam sogar aus Australien. Da merkt man ja, wie weit die Deutsche Welle reicht. Was die DW betrifft, da habe ich in Bonn auch studiert, meine Frau kennengelernt und bin dort auch zum ersten Mal Vater geworden. Ab und zu bin ich in Bonn und genieße es, über den Hofgarten zu gehen. Diese Stadt hat eine ganz besondere Atmosphäre.

Kehren wir ins Jahr 2020 zurück. Was können wir aus dieser Erfahrung lernen? Kann man tatsächlich von einer Chance sprechen?

Der Spruch "In jeder Krise liegt eine Chance" ist etwas abgegriffen, aber es ist auch eine Menge dran. Ich glaube, dass wir den Wert von Nachbarschaftshilfe neu wahrgenommen haben, sowie unser Bedürfnis nach menschlicher Nähe. Vielleicht werden wir nicht so schnell vergessen, wie wenig selbstverständlich und wie kostbar das ist. Ich glaube, dass alles, was mit Internet, mit technischer Vernetzung zu tun hat, uns nochmal gezeigt hat, wie wichtig es in Krisenzeiten sein kann. Wir werden auch merken, dass wir für eine Weile auf lieb gewordene Dinge verzichten können. Wir erleben jetzt zum Beispiel eine Adventszeit ohne Adventsfeiern im normalen Stil. Vielleicht finden wir das sogar schön, dass sie etwas karger ist, so wie Advent eigentlich sein sollte. Advent war eine Fastenzeit. Und im Grunde feiern wir Advent, zumindest was das Essen angeht, schon wie opulente Weihnachtsfeste. Und es könnte sein, dass wir gegen die Zerstörung unserer Erde etwas tun. Unsere Politik ist in der Lage, sehr kurzfristig, sehr strikt zu reagieren. Wir haben es jetzt gesehen. Das müssen wir mitnehmen. Es gab früher viel Zögern: Das kann man nicht machen, das kann man den Menschen nicht zumuten. Jetzt erleben wir, wenn echte Gefahr für Leib und Leben da ist, dass man den Menschen einiges zumuten kann. Ich finde die Einschränkungen, die ich erlebe, überhaupt nicht als eine Gefahr für meine Grundrechte, sondern als etwas, das jetzt nötig ist, und das ich dem Staat zugestehe, dass er das tut. Ich wünsche mir in Klimafragen ähnlich entschlossenes und schnelles Handeln, wie das jetzt mit Blick auf die Corona-Krise geschehen ist. Vielleicht lernen wir auch aus der Zeit, dass weniger mehr sein kann.

Das Weihnachtsfest wird für viele nicht so sein wie sonst. Was könnte helfen?

Was mir persönlich Kraft gibt, ist die Gewissheit, dass ich mit meinem kleinen Leben und diese Welt trotz allem in guten Händen stehen. Mir hilft das Gebet. Mir hilft es, wenn ich aufgewühlt bin – und das bin ich in diesen Zeiten öfter – mich hinzusetzen, einen Psalm zu lesen oder einen anderen guten Text. Es tut einfach gut, sich mit Gott zu verbinden oder per Telefon mit anderen Menschen. Lest Dinge, die euch gut tun. Es gibt viele gute Worte und Gedanken. Hört gute Musik. Sie gehört für mich zu der wichtigsten Seelenmedizin, die es gibt. Geht nach draußen, in die Natur. Atmet frische Luft. Der Wald hat eine so heilende Kraft für die Seele. Zündet eine Kerze an und betrachtet dieses Licht. Stellt euch vor, dass da einer sagt: Ich zünde Dir mein Licht an, mein Licht von Weihnachten soll für Dich leuchten. Gerade wenn man sich jetzt alleine fühlt, wenn die Dinge nicht so toll sind, nicht so schön, wie man es sich vielleicht wünscht.

Jo Römelt ist seit 25 Jahren evangelischer Gemeindepfarrer an der Dorper Kirche in Solingen.

Das Gespräch führte Medana Weident.

Porträt einer Frau mit schwarzen Haaren
Medana Weident Autorin, Reporterin, Redakteurin, vor allem für DW Rumänisch