Weihnachten: Wenn der ICE durch die "Stille Nacht" rollt
23. Dezember 2023Sie sitzen auf einfachen Holzbänken. Viele haben in zwei, drei Beuteln oder Plastiktüten ihr Hab und Gut dabei. All ihr Hab und Gut. Und fast alle von ihnen singen vom Liedzettel: "Alle Jahre wieder kommt das Christuskind, auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind …" Es klingt alt vertraut oder schräg gebrummt.
Es ist der Heilige Abend, das Fest der Weihnacht nach der Adventszeit. Mitten im Berliner Hauptbahnhof, vor dem Ausgang hin zur Spree und zum Bundeskanzleramt, feiert die Berliner Stadtmission einen Weihnachtsgottesdienst. Kirchenglocken schallen durch die Lautsprecheranlage. Nun zum 18. Mal seit der Eröffnung des Hauptbahnhofs 2006.
Im vorigen Jahr begrüßte erstmals Christian Ceconi zur Feier, Direktor und Theologischer Vorstand der Berliner Stadtmission, dem wohl bekanntesten Träger von Obdachlosenarbeit in der Hauptstadt. Auch in diesem Jahr wird der Pastor wieder predigen. Weihnachten, sagt der 52-Jährige im Gespräch mit der Deutschen Welle, sei ein Fest, "das irgendwie zur Unzeit kommt". Immer. Letztlich zeige das schon ein Blick auf die Weihnachtsgeschichte selbst: "Es passt ja alles nicht. Da sind keine Häuser frei in Bethlehem, es gibt keine Übernachtungsmöglichkeit. Die Hirten draußen vor der Stadt werden bei der Arbeit gestört und ziehen auf einmal ganz woanders hin."
"Ein Ort des Übergangs"
Letztlich, sagt Ceconi, "ist Weihnachten ein Dazwischen-Fest", ein Fest des Übergangs. Eigentlich hätten Menschen wie Maria und Josef und die namenlosen Hirten gedacht, dass sie für niemanden wichtig seien, bedeutungslos. Doch durch die Heilsgeschichte stünden sie plötzlich "im Zentrum der Weltgeschichte". Für ihn passe das zu einem Ort wie diesem Bahnhof. "Bahnhof - das ist immer ein Ort des Übergangs, an dem Leute zusammenkommen, die sich sonst nie treffen würden. Und mittendrin treffen sie Gott. Genau wie die Hirten damals in Bethlehem."
Wen sah Ceconi vor sich, als er im vorigen Jahr auf die Gemeinde im Hauptbahnhof schaute? "Total unterschiedliche Leute", sagt er. "Da saßen viele Menschen aus der Obdachlosen-Community, denen ich auch begegnen könnte, wenn ich morgens mit der S-Bahn unterwegs bin." Aber es seien auch andere Leute dagewesen, vielleicht späte Reisende. Zudem hätten einige Leute vom Sicherheitspersonal der DB mitgefeiert, auch eine Managerin. "Vom Obdachlosen bis zur Bahn-Managerin, diese Mischung hat mich auch berührt."
Konsumtempel und Kathedrale
Wer durch einen Bahnhof kommt, auch durch diesen Bahnhof, will rasch weiter oder einfach nur nach Hause. Und eigentlich ist der Hauptbahnhof an 365 Tagen im Jahr auch ein Konsumtempel mit Supermärkten und Boutiquen, Geschäften und Schnellrestaurants. Und nun ist er für gut eine Stunde eine gläserne Kathedrale.
Anders als Flughäfen haben auch große Bahnhöfe in Deutschland keinen Raum für Andacht, für Gebete, für Stille. Und doch wirkt die Kulisse in Berlin fast so, als wäre sie für die Feier am Heiligabend gemacht: Die Holzbänke stehen im Schatten eines haushohen Tannenbaums mit tausenden LED-Lämpchen. Vor der gewaltigen Glaswand hängt passend zum Fest ein tannengrüner Kranz. Und für die Dauer der Feier stehen die Rolltreppen hinter dem einfachen Altar still.
Anders die Züge: Während an Heiligabend 2022 unten gesungen wurde und gepredigt, rollten zwei Etagen höher, im direkten Blick der Gemeinde, noch Züge über Gleis 11 des Hauptbahnhofs, aus Köln oder Amsterdam. "Gott kommt zum Zuge…", dieses Wortspiel war damals das Motto der Feier.
"Der Zauber des Ortes"
Der Berliner Hauptbahnhof, sagt Monika Jung auf Anfrage, sei wie alle großen Bahnhöfe "ein Ort des Alltags, von Willkommen und Abschied, von Frust und Freude". Zur Weihnachtszeit leuchte der Bau "in festlichem Licht". Jung ist Bahnhofsmanagerin der Berliner Fernbahnhöfe. "Ganz erfüllt sich der Zauber des besonderen Ortes, wenn dazu noch Lieder und Worte des Friedens den Raum füllen", erklärt sie. Reisende, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter könnten vielleicht "den Moment genießen und vergessen, dass der Bahnhof wirklich niemals still steht".
Der unaufhörliche Betrieb drängt wieder ins Bewusstsein, wenn die gut sechzig Minuten vorüber sind, wenn "Ihr Kinderlein kommet", "Stille Nacht" und - einige Weihnachtslieder werden auch auf Englisch gesungen - "O holy night" verklungen sind. Züge fahren ein, Züge fahren ab, Ansagen tönen blechern an Bahnsteigen. Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer der Stadtmission stapeln die Holzbänke, räumen die Absperrungen weg, bieten heißen Tee an, kümmern sich um Gäste, die vielleicht noch kein Nachtquartier haben. Bethlehem in Berlin 2022. Auch 2023.
Als Student erlebte Christian Ceconi vor Jahrzehnten einmal Weihnachten im Heiligen Land. Mit anderen Studierenden ging er damals durch die Heilige Nacht die gut zehn Kilometer von Jerusalem nach Bethlehem. Die Geschichte von der Geburt Jesu kennt er als Theologe in- und auswendig. Wo würde er die bunte Gemeinde aus dem Berliner Hauptbahnhof verorten? "Für mich sind all die, die da sitzen, die Hirten. Denn die Hirten sind ja letztlich bei der ganzen Weihnachtsgeschichte diejenigen, die am wenigsten erwartet haben, dass sie in einer solchen Geschichte vorkommen. An der Krippe aber gehören sie dazu und spüren: Gott kommt zu mir."
Das passe zur Bahnhofs-Gemeinde der Heiligen Nacht, sagt Ceconi. Wer da in einer alten Regenjacke im glänzend geschmückten Hauptbahnhof sitze und seinen Schlafsack unter der Bank habe, sei fest überzeugt, dass diese Geschichte gar nicht ihn meinen könne. Menschen in der Obdachlosigkeit lebten im Schatten der Gesellschaft, sagt der Theologe. Aber "wenn Gott an Weihnachten Licht ins Dunkel bringen will, dann kommt er als erstes zu den Menschen im Schatten."