Wenn die Ausnahme Alltag wird
14. September 2015Der Arzt Michalis Charalampidis liebt seine Heimatstadt Thessaloniki. Doch der 36-Jährige weiß, wenn er ein anständiges Leben führen möchte, muss er Griechenland verlassen. "Ich werde nach Frankreich oder Belgien auswandern", sagt er. Vor drei Jahren, als ihn das Plan-B-Team der Deutschen Welle besuchte, klang das noch anders: Da arbeitete Michalis Charalampidis noch ehrenamtlich in einer Arztpraxis für Arme und kämpfte dafür, bleiben zu können.
Es wirkt auf den ersten Blick absurd: Denn nach jahrelanger Arbeitslosigkeit hat er, der hochqualifizierte Facharzt für Gastroenterologie, jetzt endlich einen Job in einem staatlichen Krankenhaus in Thessaloniki gefunden.
Zu wenig Ärzte, zu wenig Medikamente
Doch Michalis Charalampidis sagt: "Im Krankenhaus fehlt es an allen Ecken und Enden." Mal sind Medikamente nicht da, mal mangelt es an so etwas Grundlegendem wie Desinfektionsmitteln. Hinzu kommen schlechte Bezahlung und chronisch unterbesetzte Schichten. Deshalb sieht er für sich keine Chance mehr, in Griechenland ordentlich als Arzt arbeiten zu können: "Ich habe nicht den Eindruck, dass ich den Menschen unter diesen Umständen so professionell helfen kann, wie ich es gerne würde."
Michalis Charalampidis fühlt sich vom maroden Gesundheitssystem gezwungen, zu gehen. Seit drei Jahren lernt er deshalb bereits Französisch. Die Situation auf dem griechischen Arbeitsmarkt ist seit Jahren fast gleichbleibend angespannt. Jeder vierte Grieche ist arbeitslos. Bei den unter 25-Jährigen sogar jeder zweite. Immer weitere Sparmaßnahmen, politisches Wirrwarr, Bankenschließung: Das alles verunsichert die Menschen in Thessaloniki und lässt sie zunehmend daran zweifeln, dass es mit Griechenland wieder bergauf geht.
Tauschen statt Schlange stehen
Was die Zukunft bringt, weiß auch Agrarökonomin Nadia Kalogeropoulou nicht. Aber an jenem Sommertag Ende Juni, als die Banken in Thessaloniki schließen, blickt sie gelassen zu Hause auf einen vollen Kühlschrank. Lauter Obst und Gemüse, das sie kostenlos eingetauscht hat. "Für mich war das ein Tag wie jeder andere auch", sagt die 38-Jährige, die bereits seit Beginn der Krise im Jahr 2009 arbeitslos ist und ihren Alltag daher schon früh neu organisieren musste. "Wer schert sich schon um Banken?" Nadia Kalogeropoulou hat sich, so gut es geht, vom Euro unabhängig gemacht.
Aus der einstigen Karrierefrau hat die Finanzkrise eine Lebenskünstlerin gemacht. Was sie braucht, bezahlt sie mit der lokalen Alternativwährung Koino. Diese basiert auf Tauschhandel: Sie zeigt anderen zum Beispiel, wie man Küchenabfälle richtig kompostiert oder Seife selbst herstellt - und erhält dafür im Tausch ein virtuelles Guthaben. Ein Euro entspricht etwa einem Koino. "Dieses Wissen, dass ich auch in schwierigen Zeiten auf meine eigenen Stärken vertrauen kann, beruhigt mich ungemein", sagt sie - und weiß, dass sie damit zu den Glücklichen gehört. Sie hat immer noch Erspartes und wohnt in einer Wohnung, die ihre Eltern vor der Krise gekauft haben.
Der alternative Lebensmittelladen S.PA.ME, in dem Nadia Kalogeropoulou noch vor drei Jahren unentgeltlich gearbeitet hat, ist inzwischen wegen Missmanagements geschlossen. Jetzt kocht sie stattdessen drei Mal die Woche in einer Weinbar im Stadtzentrum für 2,70 Euro pro Stunde. Auch "Praksis", die Arztpraxis für Arme, in der Michalis Charalampidis 2012 kostenlos bedürftige Griechen behandelte, gibt es nicht mehr. Die ehrenamtlichen Ärzte sind inzwischen auf die Insel Kos weitergezogen. Dort wird ihre Hilfe von den Flüchtlingen dringend benötigt.
Das Schreckgespenst Grexit
Der Alltag in Thessaloniki, so klingt es im Gespräch mit Charalampidis und Kalogeropoulou an, ist rauer geworden. Jeder versucht, irgendwie über die Runden zu kommen. Der Grexit ist dabei stets präsent wie ein Flaschengeist, von dem niemand weiß, ob er gut oder böse ist. Der Arzt Michalis Charalampidis fürchtet einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone. Dabei geht es ihm um mehr als die Frage ob Euro oder Drachme: "Wir würden aufhören, uns wie Europäer zu fühlen."
Nadia Kalogeropoulou hingegen macht all das keine Angst. Im Gegenteil. Sie findet scharfe Worte für die jüngsten Sparmaßnahmen und Privatisierungen: Die Griechen würden wie Sklaven behandelt und ausgeraubt, kritisiert sie. "Natürlich kann auch ich keine Pläne mehr machen, aber ich werde mich schon irgendwie zurechtfinden." Sie weiß, dass sie auch ohne Euro ein würdevolles Leben führen kann und sagt, sie sei glücklich - trotz der andauernden Krise.