Wenn Imam und Rabbiner in die Schule kommen
7. November 2023Seit bald sieben Jahren besuchen Ender Cetin und Elias Dray Schulen in Berlin. Muslimischer Imam der eine, der andere jüdischer Rabbiner. Beide machen das als Tandem und regelmäßig, immer miteinander. Sie sind Teil des Programms "meet2respect".
Doch seit dem barbarischen Überfall der terroristischen Hamas auf israelische Zivilisten vor einem Monat und dem militärischen Vorgehen Israels im Gazastreifen ist alles anders. "Jetzt werden wir immer wieder fast wie eine Feuerwehr zu einem Brand eingeladen", sagt Cetin im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Dray liefert Zahlen: Im Grunde rufe alle zehn Minuten jemand an, um sich nach der Möglichkeit eines Schulbesuchs der beiden zu erkundigen. In dieser Woche sind die beiden jeden Tag in Berliner Schulen unterwegs. Und am Mittwoch sind sie kurzfristig sogar bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu einem Runden Tisch zum Thema "Krieg in Nahost: Für ein friedliches Zusammenleben in Deutschland!"
Tandems in der Schule
Das Projekt begründete 2013 der gemeinnützige Verein Leadership Berlin - Netzwerk Verantwortung. Ein Jahr zuvor war in Berlin ein Rabbiner in Gegenwart seiner siebenjährigen Tochter am helllichten Tag auf offener Straße beleidigt, geschlagen und verletzt worden. Mittlerweile gehen eine ganze Reihe von Tandems gemeinsam in Schulen. Und ab und an gibt es auch andere Aktionen, die für Gemeinsamkeit stehen. So radelten Rabbiner und Imame 2018 mit anderen Geistlichen gut gelaunt kreuz und quer durch die Berliner Innenstadt - auf Tandems. Dray und Cetin sind, wie sie selbst sagen, mittlerweile miteinander befreundet.
Die gemeinsamen Schulbesuche sind ungewöhnlich. Das gilt gerade in Berlin, wo es im Gegensatz zu den meisten anderen 15 Bundesländern in Deutschland traditionell keinen Religionsunterricht in der Schule gibt und das Thema Religion eher außen vor bleibt.
Doch die Zeiten sind nun so ernst, dass demonstratives gemeinsames Radeln nicht mehr ausreicht. Wie sehr grausamer Terror und Krieg in Nahost Lehrer nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland herausfordern, erläutert Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, im DW-Gespräch. Natürlich wirke eine solche Themenlage, wie alle größeren Ereignisse in der Welt, "in die Schulen hinein, weil es Diskussionsbedarf gibt".
Der Krieg in Nahost, die Existenz des Staates Israel, die Palästina-Frage und im weiteren Sinne die Fragen des Antijudaismus oder Antisemitismus seien, so Düll, selbst bei jüngeren Schülern ein Thema. "Ein Fünftklässler hat noch nicht groß vom Holocaust oder der Shoa gehört. Damit fehlt ein gewisses Grundwissen bei den jungen Leuten, um auf Augenhöhe mit den Älteren diskutieren zu können. Das macht es den Lehrern nicht leicht." Schüler mit einem nicht-deutschen Hintergrund hätten auch "gewisse Dinge" in der eigenen Familie nie diskutiert. "Dafür können diese Kinder nichts", betont der Lehrerverbands-Präsident. "Muslimischen Kindern wird natürlich in der Welt, in der sie leben, tendenziell mitgeteilt, dass das, was der Staat Israel macht, nicht richtig sei, dass selbst seine Existenz in Frage zu stellen ist."
Und Düll erwähnt einen Spendenaufruf des türkischen Moscheeverbandes Ditib zugunsten der Palästinenser im Gazastreifen, der eine Karte verwendete, "auf der der Staat Israel überhaupt nicht enthalten ist". Das passe zur gesamten Wahrnehmung. Da sei es schwer, eine selbstkritische Auseinandersetzung anzustoßen. "Je jünger die jungen Leute sind, desto schwieriger ist es. Je älter sie sind, desto eher kann man gezielt im Unterricht drauf einwirken", so der Pädagoge. Dann würden, etwa ab der neunten Klasse, die entsprechenden Themen im Unterricht behandelt.
Verwunderung in den Klassen
Das ist die Welt, in die Dray (46) und Cetin (47) gehen. Beide sagen, dass sie bei den Begegnungen in den Schulen persönlich nie beleidigt oder massiv kritisiert würden. "Und dabei treffen wir auch Schüler, die noch nie einen Rabbiner oder auch noch nie einen Juden gesehen haben", sagt Dray. Cetin spricht von der "Verwunderung", die man "auf jeden Fall" registrieren könne, wenn die beiden Geistlichen gemeinsam in Klassen kämen. "Für die Jugendlichen ist ein Imam immer eine Autorität, eine Bezugsperson, die man respektiert."
Beiden ist auch wichtig, dass es in ihrem jahrelangen Engagement längst nicht nur um islamischen Antisemitismus gehe. Auch wenn sie in Schulklassen ohne migrantische Kinder kämen, gebe es herausfordernde Gespräche. "Dann geht es um antimuslimischen Rassismus", sagt der Imam. Und auch der Rabbiner spricht davon, dass es darum gehe, im Sinne einer offenen Gesellschaft auch diesen antimuslimischen Rassismus zu bekämpfen.
Wie groß die Herausforderungen im deutschen Bildungsbereich einen Monat nach dem Hamas-Terror sind, lassen Zahlen der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) erahnen. Bei dieser Einrichtung des Bundes schauen stets auch viele Lehrerinnen und Lehrer nach Unterrichtsmaterial. Auf Anfrage der Deutschen Welle fasste die bpb zusammen, wie sich die Anforderung von Printprodukten zum Thema Nahost im Oktober entwickelte. Im Vergleich zu den ersten neun Monaten des Jahres 2023 wurden Publikationen wie "Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte", "Antisemitismus - Themenblätter im Unterricht" oder "Über Israel reden. Eine deutsche Debatte" im Oktober viermal häufiger bestellt als in den Monaten davor.
Nachfrage nach Lehrmaterial
Auch online verzeichnet die Bundeszentrale "eine starke Zugriffsteigerung auf israelspezifische Themen respektive zu den Hintergründen des Terrorangriffs der Hamas". Bei den entsprechenden Online-Dossiers zu Israel und dem Nahostkonflikt, die schon vor dem 7. Oktober im Angebot gewesen seien, verzeichne man eine Steigerung der täglichen Zugriffszahlen um rund 1500 Prozent. Die Nutzungszahlen hätten sich also versechzehnfacht.
Das entspricht dem Bild von der Feuerwehr, das Imam Cetin verwendet. Wenn eine Anfrage die beiden Geistlichen nun erreiche, habe es oft schon Konflikte auf dem Schulhof gegeben, Streit um Bilder oder entsprechende Verbote.
Ob einzelne Schulstunden reichen? Das bliebe in Erinnerung, meint Cetin, "dass der Imam und der Rabbiner kommen und sich gut verstehen". Manchmal träfen sie auf Jugendliche, bei denen sie vor drei oder Jahren mal in der Klasse gewesen seien. "Und dann bekommen wir immer gutes Feedback." Vielleicht, sagt Dray, seien es immer auch die Gespräche, "die dazu beitragen, dass die Situation angesichts der herrschenden Stimmung nicht explodiert".
Hinweis: Die Bundeszentrale für politische Bildung, die seit 60 Jahren Israel-Studienreisen anbietet, hat seit vielen Jahren israelische Partnerinnen, Partner und Freunde. In einem eigenen Angebot macht sie deren Gedanken angesichts des Terrors vom 7. Oktober und der weiteren Entwicklung auf der Homepage zugänglich.