London: Wer ist Innenministerin Priti Patel?
29. November 2021Die britische Boulevardzeitung "The Sun" ist für ihre kurzen und prägnanten Schlagzeilen bekannt und nicht dafür, dass man für ihre Überschriften eine Lesebrille braucht. Wenn dort nun ein Regierungsmitglied ungewöhnlich lang formuliert und schon in der Überschrift zugibt, "Ich verstehe Ihre Frustration, aber es gibt keinen Zauberstab, um die Migrationskrise zu lösen", dann muss die Erklärungsnot wirklich riesig sein. In dieser Situation befindet sich gerade die britische Innenministerin Priti Patel und nimmt die lebensgefährlichen Fahrten von Migranten über den Ärmelkanal zum Anlass, für neue Einwanderungsregeln zu werben.
Ihr im Frühjahr vorgestellter "Neuer Plan für Einwanderung" solle durch schnellere Verfahren dabei helfen, "echte Asylsuchende" von "Wirtschaftsmigranten" zu trennen, schreibt Patel in ihrem Gastbeitrag in der Sonntagsausgabe der "Sun". "Wenn Migranten nicht annehmen, sie dürften im Vereinigten Königreich bleiben, werden sie nicht ihr Leben riskieren und Kriminellen Tausende Pfund zahlen, um hierher zu kommen." Menschenrechtler protestierten, der Einreiseweg dürfe nicht die Chance auf ein Asylverfahren schmälern.
Doch die als Hardlinerin bekannte Innenministerin wirbt unbeirrt für ihren Plan: "Niemand muss aus Frankreich flüchten, um sicher zu sein", sagte sie vor ein paar Tagen im Londoner Unterhaus. Ihr Plan sieht vor, dass der Grenzschutz auch Pushbacks durchführen soll. Die Gewerkschaft PCS, in der viele britische Grenzschützer organisiert sind, könnte sich deswegen bald einer Klage von Flüchtlingsorganisationen anschließen. Es wäre nicht das erste Störfeuer, gegen das Priti Patel zu kämpfen hat.
Einwandererkind, konservativ
Patels Eltern gehörten zur indischstämmigen Minderheit, die sich infolge der kolonialen Verflechtungen im ostafrikanischen Uganda niedergelassen hatte. Kurz vor der Vertreibung vieler Inderinnen und Inder durch den Diktator Idi Amin 1972 siedelte das Paar nach Großbritannien über, wo Priti Patel im selben Jahr geboren wurde. In ihren frühen Jahren, schreibt "The New European", erzählte Patel häufiger, wie sie als Kind hart arbeitender Einwanderer dazu kam, mit 18 in die Konservative Partei einzutreten. Sie erwähnte dabei auch die legendäre Premierministerin Margaret Thatcher, genau wie Patel die Tochter eines Ladenbesitzers.
Inzwischen macht Patel ihre Identität nur noch selten zum Thema, jedoch unter anderem in einer Parlamentsdebatte im Juni 2020, als auch in Großbritannien hauptsächlich junge People of Color nach der Tötung George Floyds gegen Rassismus auf die Straße gingen: Als die Schwarze Labour-Abgeordnete Florence Eshalomi sie aufforderte, rassistische Ungleichheit anzuerkennen, erzählte Patel von rassistischen Beleidigungen, die sie als Kind erdulden musste.
Metallica und Margaret Thatcher
Die 49-Jährige gehört heute zum Machtzentrum der konservativen Regierung von Boris Johnson. Dabei wurde sie zu Beginn ihrer politischen Karriere als Exotin beschrieben: "Wenn es zum Erfolg führen würde, nicht wie eine Tory-Abgeordnete auszusehen und zu klingen, dann könnte Priti Patel die Rettung der Partei sein", schrieb der Londoner "Daily Telegraph" im Jahr 2001, als Tony Blair von der Labour Party gerade haushoch wiedergewählt worden war und die Tories in einer Führungskrise steckten. Sie habe sich niemals als Abgeordnete gesehen, schreibt die Zeitung, bis sie ausreichend frustriert vom Gedresche in der Partei gewesen sei und gedacht habe: "Verdammt, jemand muss es tun."
Der Artikel zeichnet das Bild einer 30-Jährigen, die einerseits Metallica laut aufdreht und an der Universität "mit einem Haufen Linker, die alle meine Kumpel waren", abhing und Alkohol trank - die andererseits aber sehr klar benennen konnte, wofür sie politisch steht: "Individuelle Freiheiten, die Regierung von den Schultern der Leute entfernen, weniger Steuern, mehr Wahlfreiheit bei Bildung und Gesundheit, starke lokale Regierungen."
Ausführlicher legte Patel ihre Überzeugungen 2012 in der Denkschrift "Britannia Unchained" dar, die vielfach als modernere und radikalere Version der politischen Vision Margaret Thatchers beschrieben wird. Bemerkenswert ist, wer neben Patel daran mitgewirkt hat: Kwasi Kwarteng ist heute Wirtschaftsminister, Dominic Raab Justizminister, Liz Truss ist inzwischen Außenministerin und der letzte Co-Autor Chris Skidmore war bis 2020 ebenfalls im Kabinett von Boris Johnson. Aufsehen erregte das dünne Buch mit der Aussage, britische Arbeiter seien "unter den weltweit schlimmsten Faulpelzen" - Lob gab es hingegen für den "intensiven Geist des Wettbewerbs" im kommunistischen China.
Innenministerin, die "Angst und Schrecken" verbreiten will
Priti Patel stieg schneller auf als manche ihrer Co-Autoren: In seinem letzten Regierungsjahr holte David Cameron sie als Arbeitsministerin ins Kabinett. Patel warb 2016 für den Brexit und wurde schließlich unter der neuen Premierministerin Theresa May Ministerin für internationale Entwicklung. Aus dieser Zeit stammen kontroverse Vorstöße, die britische Entwicklungshilfe stärker als bisher an den nationalen Interessen auszurichten. Von ihrem Ministeramt musste sie 2017 zurücktreten, nachdem bekannt geworden war, dass sie sich ohne vorherige Rückkopplung in ihrem Urlaub mit israelischen Regierungsvertretern getroffen hatte. Zwei Jahre später kehrte sie unter Boris Johnson an den Kabinettstisch zurück - nun als Innenministerin.
Damals fiel sie mit der markigen Aussage auf, Kriminelle sollten "wortwörtlich Angst und Schrecken verspüren, wenn sie nur daran denken, Delikte zu begehen". Früher hatte sie sogar die Todesstrafe als Abschreckung für Kriminelle gefordert - eine Position, von der sie sich inzwischen distanziert hat.
Fast seit Amtsantritt als Innenministerin hat sie dort auch mit dem Thema Migration zu tun: Im Oktober 2019 wurden in der südenglischen Grafschaft Essex, in der sich auch Patels Wahlkreis befindet, die Leichen von 39 vietnamesischen Migranten entdeckt, die qualvoll in einem Lastwagen zu Tode gekommen waren. In der Folge verstärkte Großbritannien gemeinsam mit Frankreich die Überwachung der über den Ärmelkanal kommenden Laster und beteiligte sich an Grenzsicherungsanlagen an der Einfahrt zum Eurotunnel in Calais. In ihrem "Sun"-Gastbeitrag resümierte Patel: "Ironischerweise war es unser Erfolg beim Schließen der Lastwagen-Route, der die monströsen Gangs dazu gebracht hat, die Aufmerksamkeit auf die Boote zu lenken."
Nach dem Bootsunglück mit 27 Toten Ende November gab Patel zu verstehen, dass sie sich im kommenden Winter noch schlimmere Tragödien am Ärmelkanal vorstellen kann.