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Politik

Auftrieb für Regulierung im Tech-Sektor?

13. November 2021

Die Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen ist nur die letzte in einer Reihe von Insidern, die Missstände in der Tech-Industrie offengelegt haben. Doch bislang war ihr Effekt gering. Das könnte sich ändern.

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Whistleblower | Symbolbild
Folgenreich nur für die Mitarbeiter? Oder sorgen Whistleblower auch für Wandel in der Tech-Branche?Bild: Gary Waters/Ikon Images/imago images

In ihrer Selbsteinschätzung ist Frances Haugen ein Mensch, der Aufmerksamkeit hasst. So sehr, sagt die Whistleblowerin, dass sie schon vor vielen Jahren aufgehört hat, Geburtstagspartys zu geben. Dass ihr Name weltweit bekannt sei, habe sie nie gewollt. Und die Vorstellung, vor Tausenden von Menschen aufzutreten, löse bei ihr Angstzustände aus.

Trotz alledem: Die Datenwissenschaftlerin beschloss, ihre Anonymität aufzugeben, um Missstände beim Tech-Giganten Facebook aufzudecken: Das erklärte Haugen am Eröffnungsabend der Technologiekonferenz WebSummit in Lissabon vor rund 20.000 Besuchern.

"Ich habe von Dingen erfahren, die meiner Meinung nach Leben gefährden", sagte Haugen zu ihren Entdeckungen bei Facebook. Sie berichtete, sie habe in ihren fast zwei Jahren Mitarbeit bei dem Social-Media-Giganten miterlebt, wie die Plattform immer wieder kontroverse Inhalte bevorzugte - einfach, weil das profitabler gewesen sei. 

Die Plattform Facebook, deren Muttergesellschaft kürzlich in Meta umbenannt wurde, hat Haugens Anschuldigungen zurückgewiesen. Dem Unternehmen zufolge zeichneten die zu Tausenden von Haugen publik gemachten internen Dokumente ein falsches Bild von der inneren Arbeitsweise bei Facebook.

Allen Dementis von Facebook zum Trotz: Die Enthüllungen der Whistleblowerin haben Facebook in Erklärungsnot gebracht und mit zu den kritischsten Nachfragen in der 16-jährigen Unternehmensgeschichte geführt. Und: Sie haben neuen Forderungen nach einer stärkeren Regulierung der Branche Auftrieb gegeben.  

John Tye von der Nonprofit-Organisation Whistleblower Aid während der WebSummit 2021.
Whistleblower, Anwalt und Gründer einer Hilfsorganisation für Whistleblower: John TyeBild: Janosch Delcker/DW

Die Frage ist nun: Folgen den Forderungen tatsächlich nachhaltige Veränderungen? Es ist eine Frage, die weniger von den Whistleblowern selbst abhängt, sondern sehr viel mehr von den politischen Entscheidungsträgern, stellt Haugens Anwalt klar: "Wenn diese Enthüllungen erst einmal da sind, ist es die Aufgabe anderer Leute, sie aufzugreifen und dafür zu sorgen, dass jemand Verantwortung übernimmt", betont John Tye am Rande des WebSummit in Lissabon gegenüber DW. Tye hatte als Whistleblower 2014 die elektronischen Überwachungspraktiken des US-Außenministeriums aufgedeckt und ist Gründer der in Washington ansässigen gemeinnützigen Organisation Whistleblower Aid.

David und Goliath 

Seine Mandantin Haugen ist die letzte in einer Reihe von Beschäftigten von High-Tech-Unternehmen, die Missstände in ihrer Branche aufgedeckt haben - trotz der Risiken, die es mit sich bringt, wenn man sich mit milliardenschweren Unternehmen anlegt. Und trotz der Aussicht, in einer Branche, in der man sich untereinander kennt, auf einer schwarzen Liste zu landen. 

Zu solchen Whistleblowern gehören auch Timnit Gebru, ein ehemaliger KI-Ethikforscher bei Google, Emily Cunningham und Maren Costa, ehemalige Mitarbeiterinnen von Amazon, und der ehemalige Apple-Mitarbeiter Thomas le Bonniec. Dass Mitarbeiter vermehrt Missstände öffentlich machen, lässt manche Beobachter bereits von einer neuen "Ära des Whistleblowing in der Tech-Branche" sprechen.

Diese Enthüllungen haben zwar über die Tech-Branche hinaus Aufmerksamkeit erregt. Und doch sind sie häufig folgenlos geblieben. Grundlegende rechtliche Auswirkungen hatten sie bislang nicht. 

Whistleblower-Anwalt Tye dämpft die Erwartung an rasche Veränderungen. Vor der Verabschiedung neuer Gesetze müsse erst ein besseres Verständnis der Problematik wachsen, sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei den politischen Entscheidungsträgern. "Das braucht Zeit", konstatiert Tye. 

Sündenfall Cambridge Analytica

Einschlägige Erfahrungen mit Whistleblowing in der Tech-Branche hat auch Brittany Kaiser gemacht. Die heute 35-jährige Kaiser wurde 2018 im Zusammenhang mit ihrem früheren Arbeitgeber Cambridge Analytica bekannt: Von ihr veröffentlichte Dokumente hatten enthüllt, wie Cambridge Analytic die Daten von Millionen von Facebook-Usern nutzte, um als Beratungsunternehmen Wahlen zu beeinflussen - von Trinidad und Tobago bis zu den USA.

Die Enthüllungen lösten zunächst einen Sturm der Entrüstung aus; politische Entscheidungsträger auf der ganzen Welt forderten ein Ende des Geschäftsmodells. Doch auch dreieinhalb Jahre danach wenden Unternehmen auf der ganzen Welt noch immer ähnliche Strategien an: Sie erstellen Persönlichkeitsprofile von Nutzern sozialer Medien, um dann mit personalisierter und hochmanipulativer Wahlwerbungderen Entscheidung zu beeinflussen. 

"Statt einer Cambridge Analytica gibt es jetzt hunderte von Cambridge Analyticas", bilanziert Kaiser im DW-Interview nüchtern. Und doch: Die Whistleblowerin gibt sich überzeugt, dass ihre Enthüllungen das Bewusstsein für Online-Privatsphäre und Datenschutz geschärft haben. "Ich glaube nicht nur, dass es sich gelohnt hat zu tun, was ich getan habe. Ich glaube auch, dass es wichtig war, um den Zeitgeist zu treffen", so Kaiser. Und: "Ich würde es wieder tun - aber nicht mehr so lange damit warten."

Der Frances-Haugen-Effekt?

Jahre nach Kaisers Enthüllungen mehren sich nun die Anzeichen, dass sich tatsächlich etwas ändern wird: So will die EU Ende November einen Gesetzesvorschlag zur Einführung strengerer Regeln für politische Online-Werbung einbringen. Das kündigte während des WebSummits in Lissabon die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Věra Jourová, gegenüber Journalisten an. "Unsere Demokratien sind zu wertvoll für diese Haltung des 'Bewege-dich-schnell-und-zerstöre-Dinge'", betonte Jourova. 

Die Kommissarin nahm direkt Bezug auf die Enthüllungen von Kaiser sowie eines zweiten Whistleblowers, Christopher Wylie, und fügte hinzu: "Ohne Skandale wie den um Cambridge Analytica wären wir nicht in der Lage, die Menschen von der Notwendigkeit einer Regulierung zu überzeugen."

An dieser Stelle kommt wieder Frances Haugen ins Spiel: Ihre Enthüllungen zu Facebook haben auch durch die schiere Menge geleakter Dokumente eine enorme Dynamik ausgelöst. Eine Dynamik, die nach Ansicht etwa Britanny Kaisers auch dazu beitragen wird, dass frühere Enthüllungen nun eine späte Wirkung entfalten. "Ich bin sehr dankbar, dass Frances viele der Dinge beweisen konnte, die bereits Chris Wylie und ich Facebook vorgeworfen haben", sagte Kaiser. "Die Zeit wird zeigen, ob wir in den nächsten Monaten oder in den nächsten ein oder zwei Jahren die Art von Veränderungen schaffen, die wir brauchen." 

 

Kommentarbild Janosch Delcker
Janosch Delcker Chefkorrespondent für Technologie