"Wichtig für die antike Religionsgeschichte"
9. April 2006
DW-WORLD.DE: Professor Söding, wie beurteilen Sie das in jahrelanger Kleinarbeit restaurierte und nun erstmal übersetzte Judas-Evangelium?
Professor Thomas Söding: Das ist ein sehr interessanter Quellenfund für die antike Religionsgeschichte, aber man muss gleichzeitig dazu sagen, dass es uns überhaupt nichts sagt über die tatsächliche Passionsgeschichte, also weder über das historische Jesus-Bild noch über das historische Judasbild erfahren wir irgendwelche neuen Informationen.
Wie kann man glauben, dass aus mehr als tausend Teilen ein verblichenes Manuskript zusammengesetzt, entziffert, übersetzt und auch noch seriös datiert wird? Wo liegen da die Probleme?
Das größte Problem scheint die Fundgeschichte zu sein. Das ist nicht klar zu rekonstruieren wie in anderen Fällen, sondern die Spuren verlaufen irgendwo im Sand. Man muss aber sagen: Diejenigen, die es übersetzt und rekonstruiert haben sind absolute Profis, die auch einen guten Namen in der Forschung haben.
Wird dieses Manuskript eine Debatte unter Religionswissenschaftler entfachen?
Auf jeden Fall ist es für die Wissenschaft interessant, aber eben für die Koptologie, für die antike Religionsgeschichte, für die Ägyptologie. Man kannte das Stichwort Judas-Evangelium schon, man wusste auch ungefähr, was da drin stehen müsste.
Was kann die Öffentlichkeit von diesen Forschungsergebnissen erwarten. Muss das Judas-Bild neu gezeichnet werden?
Meine Sorge ist, dass die Diskussion in der Öffentlichkeit in eine ganz andere Richtung geht (als in der Wissenschaft) und dass man erwartet, hier neue bislang verborgene Informationen über das tatsächliche Passionsgeschehen (das Leiden und Sterben Jesu) zu finden. Davon kann überhaupt gar keine Rede sein. Die Editoren haben aber auch überhaupt nicht den Eindruck erweckt, dass sie hier etwas historisch Brisantes präsentieren können.
Wie beurteilen Sie die These, dass Judas kein Verräter war, sondern engster Vertrauter Jesu, der ihn als einziger wirklich verstanden hat und ihn von seiner Gefangenschaft im eigenen Leib erlöste, indem er ihn den damaligen Behörden übergab, die ihn schließlich verurteilten und kreuzigten?
Diese These hat im Judas-Evangelium starke Voraussetzungen. Die wesentliche ist, dass der Gottessohn gar nicht wirklich Mensch geworden ist, sondern sich nur den Anschein des Menschen gegeben hat, sich quasi maskierte. Wenn man unter dieser Prämisse die Passionsgeschichte liest, dann ist es klar, dass man sozusagen ein gutes Werk tut, wenn man diesen Gottessohn dazu führen kann, dass er diese Maske fallen lässt. Im Grunde ist dieser Text eine Provokation, der auf einer ganz starken Relativierung des Menschsein Jesu beruht. Daher rührt die Kritik der Kirchenväter an diesem Judas-Evangelium. Denn die haben ja an der Echtheit des Menschseins Jesu und des Leidens Jesu festgehalten.
Ist das eine neue These?
Diese Tendenz, dass Jesus nicht wirklich Mensch geworden sei und dass er nur scheinbar gestorben sei, ist eine in vielen antiken Texten verbreitete Auffassung. Sie drückt aus, wie skandalös diese Vorstellung ist, dass der Gottessohn, der für uns auf die Welt gekommen ist, auch wirklich für uns diesen Kreuzestod gestorben sein soll. Das Judas-Evangelium spitzt diesen Gedanken zu und führt ihn fast ins Groteske hinein mit der Idee Judas habe am Ende Jesus einen Gefallen getan. Das stimmt aber mit allem, was wir historisch über das Leiden Jesu wissen, nicht überein.
Welche Bedeutung im Vergleich zu den vier geläufigen Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes hat das Judas-Evangelium?
Die Bedeutung ist unvergleichlich. Die neu-testamentlichen Evangelien haben eine ganz andere Qualität als das Judas-Evangelium. Die besondere Qualität der vier Evangelien liegt darin, dass sie zeitlich viel näher an den Ereignissen sind und dass sie alle auf ihre Weise das Menschsein Jesu ernst nehmen. Da kommt kein Evangelium auf die Idee zu sagen, das ganze sei Schauspielerei. Die Bedeutung des Judas-Evangeliums liegt darin, dass in der Fiktion einer Rede Jesu - es ist eine reine Fiktion - diese Gedanken expliziert werden, dass Jesus nur einen Scheintod gestorben sei und das in diesem Zusammenhang die Rolle des Judas anders zu bestimmen ist.
Professor Dr. Thomas Söding ist Professor für biblische Theologie an der Universität Wuppertal und Mitglied der päpstlichen Theologen-Kommission.