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PolitikUkraine

Wie Cherson mit den Folgen der Flut kämpft

Igor Burdyga
19. Juli 2023

Im Juni war der Kachowka-Staudamm in der Südukraine zerstört und die Stadt Cherson überschwemmt worden. Jetzt werden die Straßen gereinigt und Schäden begutachtet. Eine Reportage über das Leben nach der Katastrophe.

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Außenansicht eines flachen Gebäudes mit Spuren der Überflutung an den Wänden
Langfristige Schäden: Ein von der Überschwemmung betroffenes Haus in ChersonBild: Igor Burdyga/DW

Es ist Juli und die Mittagssonne brennt in der Tschaikowski-Straße in Cherson bei 37 Grad im Schatten. Aber wo ist Schatten?! Dutzende Arbeiter aus verschiedenen Regionen der Ukraine hocken unter schiefen Bretterzäunen und Bäumen. Sie warten auf den Müllwagen, einen weißen Lastwagen mit Kiewer Kennzeichen, der von einer Deponie zurückkehrt.

Als er kommt, greifen die Arbeiter mit den schwarzen Schutzwesten sofort zu den Schaufeln. Ein Bagger türmt Gips, Möbel, Kinderspielzeug und Bücher zu einem Stapel auf. "Alles ist feucht. Die Menschen werfen den schimmeligen Abfall aus ihren Häusern, und wir entsorgen ihn kostenlos", erzählt einer der Männer.

Die Bewohner der Tschaikowski-Straße sind ganz unterschiedlich von der Flut betroffen. Viktor, der dort seit 23 Jahren lebt, ist sich sicher: Im Vergleich zu seinen Nachbarn hätten er und seine Mutter noch Glück gehabt. In ihrem Haus am oberen Ende der Straße trat die Flut nur knapp über die Veranda. Der Keller, ein altes Auto und der Garten standen unter Wasser.

Neue Tomaten im Garten

"Wir sind noch mit dem Schrecken davongekommen, die Risse in den Wänden sind schon wieder ein wenig verschwunden und der Vorratsraum im Keller wurde nur beschädigt", sagt der ehemalige Seemann und betont, er habe inzwischen wieder neue Tomaten im Garten gepflanzt.

Luftaufnahme einer durch den Bruch des Kachowka-Dammes gefluteten Landschaft bei Cherson
Bis zum Dach unter Wasser: Häuser in Cherson im Juni 2023Bild: Inna Varenytsia/REUTERS

Auf der anderen Straßenseite ist die Situation deutlich schlimmer. Anatolij Silak sagt beim Abkratzen des Putzes von seinem Haus, er habe schon drei Lastwagen gefüllt. "Hier stand ein Ofen aus Lehm, der zusammengefallen ist. Auch der Schornstein ist eingestürzt", beklagt er, während der durch die Räume des Hauses führt.

Die Silaks haben ihr Haus, das über 50 Jahre alt ist, im Jahr 2019 gekauft. Zwei Jahre lang haben sie es renoviert und mit neuen Möbeln und Geräten ausgestattet. Als am 6. Juni der Damm des Kachowka-Stausees zerstört wurde, schafften sie es auf der Flucht vor den herannahenden Wassermassen nur, Dokumente und ihren Hund mitzunehmen.

Zurzeit ist die Familie in einer Wohnung in Cherson untergebracht, deren Besitzer vorübergehend nach Odessa gegangen sind. "Wenn sie zurückkommen, weiß ich nicht, wo wir hinsollen", sagt Anatolijs Frau Iryna.

Ein Mann in dreckiger Kleidung mit einem Eimer und einer Schaufel in einem vom Wasser zerstörten Haus
Drei Lastwagenladungen nasser Putz: Anatoliy Silak räumt Schutt aus seinem überfluteten HausBild: Igor Burdyga/DW

Seit einem Monat ist sie mit Behördengängen beschäftigt - bei der Polizei und der Regionalverwaltung. Die Betroffenen müssen sich selbst um die Hilfe des Staates und internationaler Organisationen bemühen, aber auch um künftige Entschädigungen für den Wiederaufbau. Bis zum 12. Juli sind bei den zuständigen Ämtern bereits 3157 Anträge auf Unterstützung von Bewohnern der Region Cherson eingegangen. Ein Drittel von ihnen hat jeweils 5000 Hrywnja  erhalten, rund 120 Euro.

Militärseelsorger mit Wasserpumpen

Zwischen den Schutthaufen in der Tschaikowski-Straße laufen mehrere Personen hin und her. Es sind Freiwillige der Kiewer Evangelischen Kirche Tabernakel. In den ersten Tagen der Flut retteten sie mit Booten Menschen ,und jetzt pumpen sie das Wasser aus Häusern ab. "Wir helfen den Bewohnern, wir beten hier für sie. Wir geben ihnen ein wenig Hoffnung, denn bei vielen von ihnen stirbt diese gerade", sagt der große, bärtige Konstantin Kuksa, Diakon und Militärseelsorger.

Portrait des Militärseelsorgers Konstantin Kuksa, ein Mann mit Bart, Sonnenbrille und Stoffhut
Zupackend: Militärseelsorger Konstantin Kuksa hilft den Menschen vor OrtBild: Igor Burdyga/DW

Auch weiter unten, in der Prytschalna-Straße, finden sich immer noch Reste der Flut in einigen Häusern. Ihre Besitzer sind noch nicht zurückgekehrt. "Herrgott, segne uns", sagt Konstantin, während er versucht, eine Pumpe zu starten - und der Motor startet. Jetzt fließt schmutziges, mit Schlamm vermischtes Wasser zum Fluss Koschowa hinab.

Männer stehen mit einem Schlauch und einer Pumpe in einem kleinen Hof
Noch sind die Fluten nicht besiegt: In vielen Höfen muss noch Wasser aus Brunnen abgepumpt werdenBild: Igor Burdyga/DW

Auch Roman ist ein Freiwilliger. Er kommt in einem weißen Schutzanzug zu einem Haus in der Tschaikowski-Straße, in dem der Besitzer Entfeuchtungsgeräte aufgestellt hat. Roman besprüht die freigelegten Wände mit Chemikalien gegen Pilzbefall.

"Die Wände werden wieder trocken, sie müssen dann nur noch verputzt werden, und die Leute können dann alles weitere selbst reparieren", sagt er beruhigend. Wenn es doch so einfach wäre…

Drei von vier Häusern sind baufällig

Nach Angaben der regionalen ukrainischen Behörden gab es am rechten Ufer des Dnipro in der Region Cherson, Stand 12. Juli, keine überfluteten Häuser mehr. Was das linke Ufer angeht, gibt es lediglich Angaben der dortigen russischen Besatzungsbehörden - von denen heißt es, etwa 6.400 Häuser stünden noch unter Wasser.

Ein Lastwagen, ein Traktor und davor Mann vor einem Haufen Bauschutt
Schutt ohne Ende: Kommunale Mitarbeiter in der Tschaikowski-StraßeBild: Igor Burdyga/DW

Der tägliche Artilleriebeschuss über den Fluss erlaubt es nicht, sich ein vollständiges Bild von dem Folgen der Zerstörung des Kachowka-Staudamms am Dnipro zu machen. Experten der Kyiv School of Economics schätzen auf Grundlage von Satellitenbildern, dass infolge der Katastrophe mehr als 11.000 Häuser auf beiden Seiten des Flusses völlig und 6.500 zum Teil überflutet wurden. Mehr als 33.500 Häuser gelten als "wahrscheinlich überschwemmt", weil sie sich im betroffenen Überschwemmungsgebiet befinden.

"Das Ausmaß der Zerstörung ist wirklich schockierend", sagt Olena Wasylko vom Bauamt im Gebiet Lwiw. Die Frau aus der Westukraine führt eine Expertenkommission an, die sich auf Einladung der regionalen Behörden im Katastrophengebiet aufhält.

Derzeit sind in der Stadt Cherson mehrere solcher Kommissionen aus verschiedenen Regionen der Ukraine tätig. Die Vertreter aus Lwiw kümmern sich um die Tschaikowski-Straße, sie begutachten die Privatgrundstücke und erstellen Schadensbescheide.

"An den Häusern werden, während sie trocknen, noch weitere Schäden entstehen", sagt die Leiterin der Kommission. Für den unteren Teil der Straße schlägt sie vor, einen Plan für eine Neubebauung zu erarbeiten. "Aber eine Entscheidung darüber wird man erst nach dem Sieg treffen können", fügt sie hinzu.

Ein Mann in Schutzkleidung besprüht Wände in einem Haus mit Chemikalien
Chemikalien gegen Pilzbefall: Roman versprüht als Freiwilliger außerdem OptimismusBild: Igor Burdyga/DW

Ihr Kollege Leonid Wosnjuk, Professor für Architektur am Polytechnischen Institut in Lwiw, erläutert, das Wasser habe zu lange gestanden, was die alten Gebäude aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts schlecht verkraftet hätten.

"Hier gibt es Wände aus Baumstämmen, die auf Lehm gelegt wurden. Einige Häuser bestanden aus Fachwerk, das mit Lehm und Schilf gefüllt war, und der Lehm wurde völlig weggespült. Zudem wurden die Fundamente stark unterspült, und wir wissen immer noch nicht, was mit dem Boden ist", erläutert der Fachmann. "Von den vier Häusern, die wir heute begutachten konnten, mussten drei als baufällig eingestuft werden."

Man könnte meinen, dass die Menschen hier nichts zu lachen hätten. Hunderte Bewohner sind noch nicht einmal in ihre Häuser zurückgekehrt und Dutzende wissen nicht, wann sie ihre Häuser wieder beziehen können. Doch trotz der Hitze, der Ungewissheit und des Artilleriedonners ist in der Tschaikowski-Straße in Cherson auch Lachen zu hören.

"Ich bin beeindruckt von der Freundlichkeit und positiven Einstellung der Menschen", sagt Wosnjuk und fügt hinzu: "Das ist einmalig hier in der Ukraine. Daher glaube ich, dass wir stark sind."

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk