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Wie die Chancenkarte den deutschen Arbeitsmarkt retten soll

3. Juni 2024

Seit dem 1. Juni gibt es die sogenannte Chancenkarte. Damit können Menschen, die nicht aus der EU kommen, in Deutschland auf Arbeitssuche gehen. Das soll den Fachkräftemangel lindern - doch Experten bleiben skeptisch.

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Ausländische Pflegekräfte üben an einer Puppe Körperpflege
Pflegefachkräfte sind besonders gesucht - hier werden Fachkräfte aus dem Ausland für die Arbeit fit gemacht Bild: Friso Gentsch/dpa/picture alliance

Endlich mehr Fachkräfte für Krankenpflege, Technik oder Industrie: Mit einem neuen Punktesystem - der sogenannten Chancenkarte - will Deutschland qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland anlocken und endlich seinen Fachkräftemangel in den Griff bekommen - ähnlich wie Kanada oder Australien. Wir erklären, wie das System funktionieren soll und wo Fachleute Mängel sehen.

Wie funktioniert die Chancenkarte?

Seit dem 1. Juni 2024 können Arbeitssuchende, die nicht aus der EU stammen, über die sogenannte Chancenkarte nach Deutschland kommen. Sie brauchen keinen festen Arbeitsvertrag, sondern haben ein Jahr Zeit, sich einen Job zu suchen. Voraussetzung für die Chancenkarte ist eine mindestens zweijährige Berufsausbildung oder ein Hochschulabschluss sowie einfache Sprachkenntnisse in Deutsch auf dem Niveau A1 oder Englisch auf dem anspruchsvolleren Niveau B2. Auch der persönliche Bezug zu Deutschland spielt eine Rolle.

Je nach Berufserfahrung, Sprachkenntnis, Alter und Deutschlandbezug werden Punkte vergeben. Wer für einen Beruf qualifiziert ist, in dem großer Mangel herrscht, bekommt Extrapunkte. Unter Umständen kann der Zeitraum für eine Jobsuche auch um maximal zwei Jahre verlängert werden.

Wieviel Geld muss man verdienen? 

Für ihren Lebensunterhalt müssen die Arbeitssuchenden selbst aufkommen. Nur wer bei der Jobsuche erfolgreich war, kann länger bleiben. Voraussetzung ist allerdings, dass das Bruttogehalt pro Jahr bei mindestens 40.770 Euro liegt, oder  dass nach Tarif bezahlt wird. Parallel zur Jochsuche ist eine Nebentätigkeit von bis zu 20 Stunden erlaubt.

GoGerman – Azubis aus Südostasien

Die Chancenkarte ist der dritte Teil des Fachkräfte-Einwanderungsgesetzes. Das Gesetz wurde 2020 von der damaligen Koalition aus Sozialdemokraten und konservativer CDU beschlossen, um Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ländern anzulocken.

Was ist mit den Menschen aus den Westbalkanstaaten ? 

Auch für Arbeitskräfte aus den Westbalkanstaaten gibt es seit dem 1. Juni mehr Möglichkeiten am deutschen Arbeitsmarkt, auch wenn sie keine Ausbildung haben. Allerdings müssen sie schon vor der Einreise einen Arbeitsvertrag nachweisen.

Bislang konnten 25.000 Arbeitskräfte aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien über die sogenannte Westbalkanregelung nach Deutschland kommen. Nun hat sich das Kontingent auf 50.000 pro Jahr verdoppelt.

Wie viele Arbeitskräfte fehlen in Deutschland - und warum?

Laut dem deutschen Arbeitsminister Hubertus Heil müssen bis 2035 sieben Millionen Fachkräfte in Deutschland ersetzt werden. Ohne Zuwanderung sei das nicht möglich. Besonders in der Pflege und der Gastronomie fehlen Arbeitskräfte. Auch in der IT mangelt es an Fachkräften, sowohl bei den Unternehmen als auch bei den Behörden.

Die Gründe für den Mangel sind vielfältig. Deutschlands Gesellschaft wird immer älter, die geburtenstarken Babyboomer gehen bald in Rente. Hinzu kommen neue Jobs und Branchen im Bereich Digitalisierung, bei denen die Fachkräfte fehlen. Als Folge werden Aufträge abgelehnt, Öffnungszeiten verringert, Patienten und alte Menschen nicht mehr angemessen versorgt.

Im Schnitt blieb eine offene Stelle in der Altenpflege 251 Tage unbesetzt, so laut Wirtschaftsministerium, im Bereich Baustoffherstellung sind es 249 Tage. Das Institut der Deutschen Wirtschaft schätzt, dass der Fachkräftemangel die Unternehmen in Deutschland 49 Milliarden Euro kosten wird.

Weniger offene Stellen auf dem deutschen Arbeitsmarkt - noch 

Dabei lesen sich die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr sogar ganz optimistisch: Die Bundesagentur für Arbeit meldete für April 2024 rund 701.000 offene Stellen, rund 70.000 weniger als im Vorjahr. Auch laut dem Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, Stand März 2024, hat der Mangel an Fachkräften leicht abgenommen. So gaben etwa 36,3 Prozent der Firmen an, unter Engpässen zu leiden. Im Vorjahr waren es noch 43,6 Prozent.

Symbolbild | Fachkräftemangel in Deutschland
Fachkräftemangel: Experten sprechen von einem Milliardenschaden Bild: Monika Skolimowska/dpa/picture alliance

Dass die Zahlen leicht abgenommen haben, ist jedoch erstmal keine gute Nachricht, sondern hängt vor allem mit der schwächelnden Konjunktur in Deutschland zusammen. Wenn die Konjunktur wieder anzieht, werde auch der Fachkräftemangel wieder steigen, so Ifo-Experte Klaus Wohlrabe.

Wo liegen die Probleme der Chancenkarte?

Trotz all dieser Neuerungen bleiben Migrationsforscher skeptisch. Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) rechnet gegenüber der in Düsseldorf erscheinenden "Rheinischen Post" mit einer begrenzten Wirkung. Anders als beispielsweise in Kanada gehe es ja nur um die Möglichkeit, sich eine Arbeit zu suchen. In Kanada führt das Punktesystem dagegen zu einem dauerhaften Aufenthaltsrecht - und ist damit deutlich attraktiver.

Außerdem sei die Chancenkarte keine echte Erleichterung. Denn schon jetzt vernetzten sich Arbeitssuchende rund um die Welt per Telefonkonferenz mit potentiellen Arbeitgebern und ergatterten ihren Job via Facetime oder Zoom. Andere kämen als Tourist nach Deutschland und begäben sich dann auf Jobsuche.

KI gegen Fachkräftemangel

Der Deutsche Gewerkschaftsbund sieht schon bei den Voraussetzungen Hürden. Nicht in allen Ländern gebe es eine staatlich anerkannte Berufsausbildung. Manchmal erlernen junge Menschen ihren Beruf auch als formloses "training on the job" ohne Abschluss. Außerdem müssten Arbeitssuchende nachweisen, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können. Der DGB erwartet deshalb kaum "positive Auswirkungen".

(mit Agenturen)

Stephanie Höppner Autorin und Redakteurin für Politik und Gesellschaft