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Planeten-Rettung ist Gesundheitsschutz

Jennifer Collins
23. Dezember 2020

Klimakrise, Umweltzerstörung, Rückgang der Artenvielfalt - Wissenschaftler haben der Erde viele Diagnosen gestellt. Die vielleicht wichtigste aber: Die Rettung des Planeten kommt auch der menschlichen Gesundheit zugute.

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Ein Foto der Erde vom Weltraum, den südamerikanischen Kontinent im Blickfeld
Unserem Planeten geht es nicht gut - darunter leiden auch wir MenschenBild: picture-alliance/dpa/NASA

In einem Jahr, in dem in vielen Teilen der Welt Waldbrände wüten, andere von Megastürmen heimgesucht werden, und ein neuartiges Virus von Tieren auf Menschen übergeht und die ganze Welt befällt, stellen Wissenschaftler immer deutlicher einen Zusammenhang zwischen einer intakten Umwelt und ihrer Bedeutung für die Gesundheit des Menschen her.  

Ein neues Buch, "Planetary Health: Protecting Nature to Protect Ourselves" (Die Natur schützen, um uns selbst zu schützen) beschreibt die wichtigsten Umweltprobleme und nennt Lösungswege. Einer der Herausgeber des Buches ist Samuel Myers. Der Mediziner forscht an der US-amerikanischen Harvard-Universität auf dem Gebiet "Planetare Gesundheit" und ist Direktor der Planetary Health Alliance, einem internationalen Netzwerk von Organisationen, die sich mit globalen Umweltveränderungen und deren Auswirkungen auf unsere Gesundheit befassen. Mit der DW sprach Samuel Myers darüber, wie menschliches Handeln die Umwelt destabilisiert - und gleichzeitig unserer Gesundheit schadet.

DW: Was ist mit dem Begriff "planetare Gesundheit" gemeint?  

Samuel Myers: Das Konzept beruht auf der Erkenntnis, dass Diskussionen über die natürliche Umwelt und die globale Gesundheit nicht mehr voneinander zu trennen sind. Es sind zwei Seiten derselben Medaille, denn die Systeme, die uns erhalten, beginnen unter der enormen Last unserer eigenen Aktivitäten zu bröckeln. 

Ein Foto von Samuel Myers in einem rostroten Pullover
Samuel Myers erforscht die Schnittmenge zwischen der Gesundheit des Planeten und der menschlichen Gesundheit Bild: Harvard University Center for the Environment

Die Nachricht, dass der Klimawandel die Gesundheit gefährdet, erreicht die Menschen allmählich. Aber es ist wichtig, das Bewusstsein dafür zu erweitern, denn wenn eine falsche Diagnose gestellt wird, wird es auch eine falsche Behandlung geben. Wird das Problem ausschließlich als Problem des Klimawandels angesehen, dann beschränkt sich die Behandlung fast ausschließlich auf die Energiewirtschaft und die Notwendigkeit, sie CO2 neutral zu machen.  

Dass wir das tun müssen, steht außer Frage. Aber es kann gut sein, dass wir uns danach immer noch in einer Krise befinden. Das eigentliche Problem ist das Ausmaß menschlicher Aktivität. 

Der Umfang unseres globalen Konsumverhaltens übersteigt heute die Kapazität unseres Planeten, dauerhaft die Ressourcen bereitzustellen, die wir nutzen ebenso wie Kapazität unseren Abfall zu absorbieren. Das wirkt sich auf die Qualität und Quantität der von uns produzierten Lebensmittel aus, auf die Luft- und Wasserqualität, auf die Bedrohung durch extreme Wetterereignisse, die Gefährdung durch Infektionskrankheiten, wie die Pandemie und sogar auf die Bewohnbarkeit einiger Regionen, in denen Menschen leben. 

Was bedeutet ein planetarischer Gesundheitsansatz im Umgang mit Umwelt- und Klimakatastrophen? 

Man kann die menschliche Gesundheit nicht schützen, ohne unsere Einwirkung auf die natürlichen Systeme unseres Planeten in Betracht zu ziehen.  

Generell gibt es viele Lösungen, aber in Wirklichkeit erfordert es das, was viele von uns als den "großen Wandel" oder die "große Wende" bezeichnen - eine Kurskorrektur, alles anders zu machen, um unseren ökologischen Fußabdruck zu minimieren. 

Eine Frau in einem roten Sari erntet ökologisch angebaute Feldfrüchte
Ökologischer Landbau und bessere Methoden in der Landwirtschaft sind Teil der Behandlung der Gesundheitsprobleme der ErdeBild: DW/M. Rahman
Eine Fabrik pustet Abgase in die Luft
Der Klimawandel ist nur eines der vielen Gesundheitsprobleme unseres Planeten, sagt MyersBild: Imago-Images/Action Pictures/P. Schatz

Wir wissen schon jetzt enorm viel darüber, was wir tun müssen - ob es nun um erneuerbare Energien oder um die Nahrungsmittelproduktion geht. Wir wissen um die zahlreichen Möglichkeiten, viel effizienter zu sein, wenn es darum geht, wie wir Nahrungsmittel produzieren und konsumieren oder wie wir unsere Städte herstellen, bauen und gestalten. All das minimiert unseren ökologischen Fußabdruck.  

In vielen Fällen bringt es enorme Vorteile mit sich, die Dinge anders zu machen. Wenn wir uns vermehrt pflanzlich ernähren, ist das viel gesünder. Wenn wir zu erneuerbaren Energien übergehen, wird unsere Luft viel sauberer. Viele der möglichen Veränderungen haben gesundheitliche oder wirtschaftliche Vorteile. Es ist keine Geschichte von Entbehrung, es ist eine Geschichte des Wandels.  

Auf der einen Seite haben wir technologische Lösungen, aber auf der anderen Seite sprechen wir von einer grundlegenden Umgestaltung unserer Arbeitsweise. Und es scheint ein so gewaltiges Unterfangen zu sein, diesen Wandel zu schaffen.

Es ist auch ein gewaltiges Unterfangen, das müssen wir eingestehen. Aber es ist auch eine einzigartige Chance. Stellen Sie sich eine Welt in 100 Jahren vor, in der Ihre Enkelkinder an einem Ort leben, wo sich die menschliche Bevölkerung stabilisiert hat und allmählich abnimmt, und zwar als Teil des ganz normalen demographischen Übergangs, den wir im Zusammenhang mit der Ausbildung von Mädchen und den wirtschaftlichen Möglichkeiten für Frauen erleben, sowie dem Zugang zur Familienplanung für Paare, die sich das wünschen. Eine Welt, in der wir eine CO2 neutrale Energiewirtschaft haben und wo wir Lebensmittel und Fertigwaren effizienter produzieren, und in der es mit jedem Jahrzehnt für den Rest der Biosphäre mehr Luft zum Atmen gibt.   

SOS-Signal aus Palmenbäumen
Das Ausmaß des menschlichen Konsums und der menschlichen Handlungen verursacht ökologische Zerstörung, einschließlich der Rodung ausgedehnter Waldgebiete Bild: picture-alliance/Cover Images/E. Zacharevic

Wie kommen wir dorthin?  

Das Buch enthält viele Beispiele. Eine der Fallstudien ist die Geschichte der Kläranlage in Santiago de Chile, der Hauptstadt Chiles. Im Jahr 1998 waren 98 Prozent des Abwassers der Stadt ungeklärt. Nur ungeklärtes Abwasser wurde in den Fluss geleitet. Und jetzt werden 100 Prozent der Abwässer vollständig gereinigt. Energie und Biogas werden aus den Abwässern erzeugt, so dass die Anlage einen CO2-Fußabdruck von Null hat.  Frischwasser wird in den Fluss abgegeben und so gewinnt man Stickstoff und Phosphat für die Düngung der umliegenden Bauernhöfe zurück.  

Das ist ein schönes Beispiel dafür, wie man etwas, das buchstäblich wertlos und enorm umweltschädlich war, in eine Ressource verwandeln kann. Und das Unternehmen selbst erzielt dabei einen Gewinn von 25 Prozent, so dass der Erfolg deutlich messbar ist.  

Technologie und Innovation werden notwendig sein, aber sie sind sicherlich nicht ausreichend. Es gibt eine Art spirituelles Erwachen, das meiner Meinung nach dazu gehört, und die Erkenntnis, dass in unserer Beziehung zur Natur etwas stark beschädigt ist, das wieder hergestellt und gestärkt werden muss. Dieses Etwas ist in den meisten indigenen Traditionen und Wissenssystemen sowie in den meisten Glaubenstraditionen sehr lebendig. Viele von uns empfinden ein Gefühl der Ehrfurcht vor der Natur, aber sie hat die Autorität verloren, unsere Entscheidungen zu lenken.  

Kann der Wechsel in eine nachhaltige Wirtschaft gelingen?

Welchen Herausforderungen steht die Menschheit gegenüber, wenn wir einen Ansatz zur planetarischen Gesundheit verfolgen wollen?  

Es gibt hier in Harvard einen wunderbaren Experten für genau diese Bewegung und sozialen Aktivismus namens Marshall Ganz. Er unterteilt Probleme in Wissens- und Machtprobleme. Beide Kategorien existieren in der planetaren Gesundheit.  

Wir begreifen einfach nicht, welche Folgen es hat, wenn wir all unsere Ökosyteme mit der rasantesten Geschwindigkeit in der Geschichte unserer Spezies vollständig umbauen. Wir haben uns seit einer Million Jahren an ein Überleben unter relativ stabilen Bedingungen angepasst. Und jetzt drücken wir plötzlich - ähnlich wie ein Affe mit einer Rakete -  Knöpfe und Hebel und verändern alles sehr schnell, ohne die Auswirkungen dieser veränderten Bedingungen wirklich zu verstehen.  

Auch die Machtprobleme sind immens. Es sind die ausbeuterischen, Rohstoff fördernden Industrien, wie der Bergbau, das Bohren nach fossilen Brennstoffen oder die Holzwirtschaft, von denen wir wissen, dass sie nicht gut für unsere Ökosysteme sind. In vielen Fällen, wie zum Beispiel beim Klima, ist es wissenschaftlich erwiesen, dass wir diese Systeme stören und dass das nicht gut für uns ist. Und der Grund, warum diese Aktivitäten trotzdem weiterlaufen, ist keine Frage des Wissens. Der Grund dafür ist, dass jemand damit viel Geld verdient.  

Wie machen wir es anders? Ist Verzicht wirklich eine Option?

Glauben Sie, dass wir aus der Corona-Pandemie Lehren ziehen können?  

Ich denke, eine der wichtigsten Lehren ist, dass Menschen auf der ganzen Welt die Fähigkeit haben, ihr Verhalten global und kollektiv zu ändern, als Reaktion auf eine extreme Bedrohung. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit haben wir etwas ähnliches erlebt, dass weltweit fast alle Menschen in sehr kurzer Zeit als Reaktion auf eine Bedrohung ihre Lebensweise geändert haben.  

Ich glaube, das war ein Schock. Und ich glaube, in diesem Moment des Schocks gibt es vielleicht eine Offenheit für die Idee einer Kurskorrektur, die wir wirklich nutzen sollten. 

Dieses Interview wurde von Jennifer Collins geführt und wurde aus Gründen der Länge und Klarheit redigiert und zusammengefasst.