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"Woke" Kritik an der Cancel Culture

Elizabeth Grenier
13. September 2021

Cancel Culture gilt als Schlagwort der Rechten gegen Liberale. Doch auch der schwarze Wissenschaftler John McWhorter erkennt eine problematische Entwicklung.

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John McWhorter
Der US-Linguist John McWhorter plädiert für MeinungsvielfaltBild: Eileen Barroso/Columbia University

Cancel Culture kann auf unterschiedliche Weisen interpretiert werden. Für die Kommentatoren des rechtskonservativen US-Senders Fox News steht das Schlagwort dafür, wie liberale Eliten amerikanische Werte und Kultur auslöschen.

Entsprechend kompliziert ist es, aus dem Ruder laufende Formen der Cancel Culture und des antirassistischen Deplatforming zu kritisieren, ohne dabei zu klingen wie ein Vertreter des rechten Lagers. Das Deplatforming bezeichnet eine Strategie, mit der Personen von Diskussionen auf digitalen Plattformen ausgeschlossen werden sollen, sofern sie eine abweichende Meinung vertreten als die einer selbsternannten moralischen Instanz - meist bei Themen wie Rassismus, Sexismus oder Homophobie.

"Wir sind Zeugen der Geburt einer neuen Religion", sagt der US-Linguist John McWhorter, Professor an der Columbia University - und schwarz. Seit Jahren forscht er zum Thema Rassismus in den USA und hat dabei Elemente des Antirassismus-Diskurses ausgemacht, die er als "sehr beunruhigend" bezeichnet.

Die Cancel Culture ist auch Gegenstand seines Buches "Die Erwählten: Wie ein neuer Rassismus die Gesellschaft spaltet", das am 26. Oktober erscheint. Das Internationale Literaturfestival Berlin (vom 8. bis 18. September) lud McWhorter ein, einen Vortrag zu halten.

CRT: Institutionen begünstigen Weiße

Darin erläuterte der Professor zunächst, wie aus der Kritischen Rassentheorie (CRT) eine "extreme Ideologie" entstanden ist. Aus der Mitte der 1970er-Jahre entwickelten CRT entstand eine Bürgerrechtsbewegung, die darauf hinweist, wie die sozialen, kulturellen und rechtlichen Institutionen der Vereinigten Staaten die Interessen und Privilegien der Weißen begünstigen - meist zum Nachteil marginalisierter Bevölkerungsgruppen.

Bei Protesten von Black Lives Matter in Washington hält ein Demonstrant ein Schild hoch, auf dem in Englisch steht: Rassimus ist unsere längste Plage.
"Rassimus ist unsere längste Plage": Demonstranten von Black Lives Matter in WashingtonBild: picture-alliance/AP Photo/J. Cortez

"Diese Themen müssen uns natürlich beschäftigen, aber die neue Idee ist, dass die Beseitigung von Machtunterschieden im Mittelpunkt stehen muss - dass nichts anderes so wichtig ist", erklärte McWhorter. Der Linguist stimmt zwar zu, dass die wissenschaftliche CRT-Forschung eine wertvolle Perspektive bietet, sagt aber auch, dass sie Nuancen und Vielfalt in der akademischen Debatte zunehmend entmutigt.

Der gesamte kulturelle Kanon werde auf diese vereinfachte Sichtweise heruntergebrochen, meint McWhorter, der Ludwig van Beethoven als Beispiel nannte: Dem Musikwissenschaftler Philip Ewell zufolge sei Beethoven lediglich ein überdurchschnittlicher Komponist gewesen, der allein aufgrund seiner weißen Hautfarbe als "Meister" verehrt werde - ein Begriff, der sowohl rassistisch wie auch sexistisch konnotiert sei.

Diese Ideen seien es wert, diskutiert zu werden, findet John McWhorter. Allerdings beunruhige es ihn, wenn "es nicht mehr nur eine Perspektive unter vielen ist, sondern eine Religion". Wer dieser moralisierenden Sichtweise nicht zustimme, werde von einer bestimmten Gruppe als "weißer Rassist" betrachtet, der es verdiene, in den sozialen Medien geteert und aus der Debatte ausgeschlossen zu werden.

Rassistischer Antirassismus

Auch der Begriff "woke", der im Juni 2017 offiziell als Adjektiv in das Oxford English Dictionary aufgenommen wurde, hat in der Debatte eine bemerkenswerte Entwicklung genommen. Ursprünglich auf Menschen bezogen, die sich des systematischen Rassismus und anderer Formen von Ungerechtigkeit in der Gesellschaft bewusst sind, ist daraus ein Kampfbegriff der Rechtskonservativen geworden, um Linke und Liberale zu verunglimpfen.

Eine Demonstrantin in Irland hat "White Silence is Violence" auf ihre FFP2-Maske geschrieben - Weißes Schweigen ist Gewalt.
"Wer schweigt, macht sich zum Mittäter": John McWhorter kritisiert solche Ansichten der Antirassismus-Bewegung.Bild: Brian Lawless/PA Wire/dpa/picture alliance

Während John McWhorther sich selbst als "woke" (deutsch: "erwacht") versteht, hat er eine Abstufung geschaffen, um die Unterschiede zum exzessiven Moralanspruch zu verdeutlichen: "Die Erwählten sind die 'Hyperwachen' oder genauer gesagt die Wachen, die gemein sind." Diese Gruppe sei ein Teil der dritten Welle des Antirassismus.

Die erste Welle kämpfte gegen Sklaverei und Rassentrennung, während die zweite Welle des Antirassismus in den 1970er- und 1980er-Jahren gegen Ungleichbehandlung wegen der Hautfarbe kämpfte.

Der Antirassismus der dritten Welle, der in den 2010er Jahren zum Mainstream wurde, ist für McWhorter eine neue Form des Rassismus. Sein Grundgedanke: Da der Rassismus tief in die Strukturen der Gesellschaften eingewoben sei, würde weißen Menschen, die diese institutionelle Ungerechtigkeit nicht anprangerten, eine "Komplizenschaft" mit den etablierten "weißen Vorherrschaftsstrukturen" unterstellt.

Buchcover Woke Racism
John McWhorters aktuelles Buch

"Die Vorstellung, dass Weiße durch ihr weißes Privileg dauerhaft befleckt sind und nur dann moralische Absolution erhalten, wenn sie es ewig bezeugen, ist eine Erbsünde der dritten Welle", schrieb McWhorter in einem Essay in "The Atlantic". Das sei jedoch nicht revolutionär, sondern anti-intellektuell. "Man verlangt von uns, dass wir der Komplexität abschwören."

Durch den kulturellen Einfluss der USA sei dieses Framing von Themen auch nach Europa importiert worden, sagt McWhorter. Es sei zwar unerlässlich, dass sich Dinge verändern müssten. Allerdings komme es auch darauf an, wie diese Änderungen erfolgten. Die Debatten müssten schrittweise geführt werden, um eine weitere Polarisierung zu vermeiden, sagt John McWhorter: "Wir müssen wieder viele Stimmen am Tisch versammeln."

Deutsche Adaption: Torsten Landsberg