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PolitikUkraine

Wie entwickelt sich der Krieg in der Ukraine?

Roman Goncharenko
27. Februar 2022

Was ist das langfristige Ziel Russlands? Und welche Möglichkeiten bleiben der Ukraine und dem Westen auf die Aggression zu reagieren? Ein Gespräch mit dem Russland-Experten Mathieu Boulegue.

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Ukraine Krieg mit Russland | Rauch über Kiew
Bild: Gleb Garanich/REUTERS

DW: Ist die militärische Lage der Ukraine so hoffnungslos, wie sie scheint?

Mathieu Boulegue: Die Situation ist nicht ausweglos. Die ukrainische Armee hat den Vormarsch russischer Streitkräfte an einigen Stellen gebremst. Russland tut sich schwer damit, ukrainische Luftabwehrsysteme auszuschalten, außerdem kämpfen die Ukrainer um jeden Zentimeter Land. Das hat die erste Angriffswelle verlangsamt und abgeschwächt. Jetzt geht es darum, weitere Angriffe abzuwehren und zugleich eine ukrainische Gegenoffensive zu planen für den Fall einer großangelegten russischen Bodeninvasion. Aktuell befindet wir uns in der ersten Kriegsphase. Danach kommt es wahrscheinlich zum Einmarsch russischer Bodentruppen.

Können die Ukrainer Kiew halten? 

Kiew befindet sich in einer sehr schwierigen Lage. Die russische Armee wird voraussichtlich versuchen, die Stadt einzukesseln, indem sie aus mehreren Richtungen vorstößt. Wir konnten beobachten, wie russische Truppen vom nördlichen Belarus nach Kiew vordringen. Zugleich ist anzunehmen, dass weitere Truppenteile von Osten kommend versuchen, die Stadt zu umzingeln.  

Die Frage ist, ob Russland unter Zeitdruck steht und eine rasche Eroberung anstrebt, oder sich eine langfristige Belagerung leisten kann, während es seine Militäroperationen fortsetzt. Der Kampf um Kiew könnte schnell vorüber sein, oder in einen blutigen Belagerungszustand übergehen, je nachdem welches Ziel Russland verfolgt.

Was plant Russland in der Ukraine? Will es das ganze Land kontrollieren, oder ein Teilgebiet abspalten? 

Ehrlich gesagt kann ich das derzeit nicht einschätzen. Dennoch muss man realistisch festhalten, dass Russland ein Maximalziel verfolgt. Der Widerstand ukrainischer Truppen und die Reaktion des Westens bestimmen, ob Russland dieses umsetzten kann. Ernsthafte Bemühungen des Westen, die Kosten für Russland in die Höhe zu treiben, sind entscheidend. Ein dritter Faktor ist die Kampfbereitschaft russischer Truppen. Kommt es aufgrund fehlender Moral oder Disziplin zu taktischen Fehlern, könnte das die russische Kosten-Nutzen-Abwägung ebenfalls beeinflussen. 

Die Situation ändert sich zu schnell, um ein klares Bild davon zu bekommen, wie der Krieg ausgeht, oder welches Endziel angestrebt wird.

Plant Russland die Ukraine vollständig zu besetzen, oder will es die Regierung absetzen und im Land verbleiben?

Das Ziel ist nicht unbedingt, das ganze Land zu besetzen. Die Kosten einer vollständigen Besatzung wären zu hoch. Dennoch glaube ich, dass Russland seinen Vormarsch auf Kiew beschleunigt, denn die Eroberung der Stadt und Absetzung der Regierung waren immer schon geplant. 

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Sofern Russland die Kontrolle über Kiew erlangt und die politische Führung des Landes mit pro-russischen Marionetten ersetzt, ändert sich alles. Ich glaube, der Kreml hat angesichts des beharrlichen ukrainischen Widerstands beschlossen, die Hauptstadt so schnell wie möglich einzunehmen. Aus russischer Sicht gilt es, die Schlacht um Kiew möglichst rasch zu gewinnen.

Können Sie eine Prognose hinsichtlich der nächsten Tage und Wochen abgeben?

Heute und in den kommenden Tagen werden russische Streitkräfte weiter auf Kiew vorrücken mit dem Ziel, die Stadt einzunehmen. Sobald die zweite Phase anbricht, folgt eine großangelegte Bodeninvasion. Nachdem ukrainische Luftabwehrkräfte ausgeschaltet sind, beginnt nach vier bis fünf Tagen diese neue Kampfphase. Innerhalb einer Woche wird sich die Militärgeographie der Ukraine radial verändern. 

Was kann der Westen tun?  

Die Waffenlieferungen aus dem Westen könnten Russland gegen uns aufbringen. Russland könnte uns als Kriegspartei ansehen, uns als Kriegsgegner auffassen. Das wäre eine sehr gefährliche Eskalation. Putin hat mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Insofern befinden wir uns in einer ausgesprochen gefährlichen Situation, die der Westen ernst nehmen muss.   

Dennoch müssen wir nicht tatenlos zusehen. Wir können und sollten militärische Unterstützung leisten auf dem Gebiet der Cybersicherheit und zur Bekämpfung von Desinformation, die der Kriegsführung dient. Viel kann auch hinsichtlich finanzieller Unterstützungen getan werden: Wir brauchen einen Marshall Plan für die Ukraine. Wir müssen große Anstrengen unternehmen, um der Ukraine wirtschaftlich und finanziell zu helfen. Außerdem können wir etwa bei der medizinischen und logistischen Ausstattung unterstützen. Es ist unerlässlich, dass wir den Kriegsopfern, Geflüchteten und Binnenflüchtlingen zur Seite stehen.

War die Ukraine unzureichend auf einen russischen Angriff vorbereitet? 

Auf einen Überfall dieser Art ist niemand vorbereitet. Ich denke, die ukrainischen Streitkräfte waren so gut es ging vorbereitet. Für sie steht alles auf dem Spiel, weshalb sie bis zum Tod kämpfen werden, wenn sie müssen. Für die Russen gilt das nicht. Zudem gibt es Anzeichen dafür, dass die Kampfmoral unter den russischen Streitkräften nicht besonders stark ausgeprägt ist. So werden Wehrpflichtige vertraglich zu Kampfeinsätzen verpflichtet.

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Eine mäßig motivierte russische Armee trifft auf eine unterlegene aber hochmotivierte und gut vorbereitete ukrainische Truppe. Unlängst forderte das ukrainische Verteidigungsministerium die Bewölkung Kiews auf, Molotow-Cocktails vorzubereiten, um den russischen Vormarsch zu stoppen. Dies zeigt, wie entschlossen die Ukrainer sind. Sie werden bis zum Tod kämpfen, wenn sie müssen.
 
Mathieu Boulegue ist Russland-Experte an der Londoner Denkfabrik Chatham House.

Aus dem Englischen von Benjamin Restle